Die Wanderapothekerin 1-6
voller Entsetzen anstarrte. Da die junge Frau keine Anstalten machte, sich zu rühren, eilte sie zu ihr, packte sie am Arm und zerrte sie mit sich.
»Los, die Strickleiter hoch!«, fuhr sie Dieta an.
Diese schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht!«
»Dann musst du hierbleiben. Zum Hochziehen bist du mir nämlich zu schwer! Wenn ich die Höhle verlasse, muss ich die Strickleiter entfernen, damit Görch mir nicht folgen kann.«
Als ihre Worte nichts halfen, versetzte sie Dieta zwei heftige Ohrfeigen. »Los, hinauf mit dir! Sonst lasse ich dich wirklich hier zurück, damit der Köhler mit dir machen kann, was er will!«
Diese Medizin wirkte. Dieta schüttelte sich wie ein nasser Hund, packte die Strickleiter und begann hochzuklettern. Da Görch sie hatte hungern lassen, war sie sehr schwach, und es ging nur langsam voran. Als sie den Rand des Laternenscheins erreichte, wollte sie gar nicht mehr weiter.
Klara warf einen raschen Blick auf Görch und sah, dass dieser einen Arm und ein Bein bewegte. Aus Angst, er könne gleich erwachen, begann nun auch sie zu klettern und betete dabei, dass die Strickleiter Dietas und ihr Gewicht aushielt. Es war mühsam, dabei die Laterne zu halten, doch als deren Licht nach oben wanderte, wagte sich auch Dieta weiter hinauf.
Nach einer Zeit, die beiden schier endlos erschien, erreichte Dieta die Eingangshöhle, taumelte ein paar Schritte vorwärts und ließ sich zu Boden sinken. Nur wenige Herzschläge später war auch Klara oben und zerrte die Strickleiter herauf. Was sich unten in der Höhle tat, konnte sie nicht sehen. Doch selbst, wenn Görch es gelingen sollte, die Wand ohne Strickleiter hochzuklettern, würde er einige Zeit dafür brauchen. Bis dorthin mussten Dieta und sie in Sicherheit sein.
So rasch es ihnen angesichts von Dietas Schwäche möglich war, verließen die beiden Mädchen das Höhlensystem und eilten ins Freie. Dort stellte Klara die Laterne ab, um nicht weiter von ihr behindert zu werden. Der Weg über das Geröllfeld war beschwerlich, und sie rutschten mehrmals ein paar Schritte nach unten, gefolgt von einem Schwung Steine. Zu ihrer Erleichterung erreichten sie den Talgrund ohne größere Blessuren. Unten blieb Klara kurz stehen und überlegte, wo sie am ehesten Hilfe zu erwarten hatten.
»Komm mit!«, forderte sie Dieta auf und drang tiefer in die Teufelsschlucht ein. Auf dieser Seite war der Weg kürzer, und sie hoffte, eines der Dörfer in der Umgebung zu erreichen.
15.
I m Wald war es unmöglich, die Entfernung abzuschätzen. Sie konnten eine Drittel- oder vielleicht sogar eine halbe Meile hinter sich gebracht haben, als sie auf einmal Hufschläge vernahmen. Klara blieb stehen, lauschte und legte dann die Hände zu einem Trichter zusammen.
»Zu Hilfe! Helft uns doch! Rettet unser Leben!«, rief sie.
Da Dieta stumm neben ihr stand, versetzte sie ihr einen Rippenstoß. »Tu deinen Mund auf!«, herrschte sie sie an und schrie dann, so laut sie konnte, um Hilfe.
Nun fiel auch Dieta mit ein. Als sie kurz verstummten, um nach den Hufschlägen zu horchen, waren diese langsamer geworden und kamen in ihre Richtung. Erleichtert eilte Klara ihnen entgegen und schrie dabei, dass sie dem Unhold entkommen wären. Kurz darauf sah sie zwei Reiter vor sich. Einer war ein fürstlicher Jäger, der andere ein Bürger aus Meuselbach, den sie vom Sehen her kannte.
»Der Herr im Himmel segne Euch!«, rief sie erleichtert. »Wir sind dem Unhold entkommen! Wenn Ihr schnell seid, könnt Ihr ihn noch fangen. Es ist Görch, der Köhler! Der Kerl hat uns alle zum Narren gehalten.«
Der Jäger musterte sie ungläubig. »Bist du nicht die Tochter des Wanderapothekers Martin Schneidt aus Katzhütte?«
Klara nickte. »Die bin ich!«
Bevor sie mehr sagen konnte, herrschte der Jäger sie an: »Du behauptest, ihr wärt dem Ungeheuer entkommen?«
»Es ist der Köhler Görch! Er hat damals auch die Jüdin gefangen, aber die ist tot. Wir beide konnten ihn überlisten und ihm entkommen.« Klara erklärte in kurzen Worten, dass sie nach Rudolstadt hatte gehen wollen und dabei Dietas Stimme aus einem Loch im Boden vernommen hatte.
»Ich bin dann zum Köhler, um ihn zu bitten, dass er mir hilft, sie zu finden. Stattdessen hat er mich selbst in seiner geheimen Höhle eingesperrt«, setzte sie hinzu und sah den Jäger auffordernd an.
»Wenn Ihr Euch beeilt, könnt Ihr ihn noch fangen. Er steckt jetzt selbst in der Höhle, in die er uns geschleppt hat, und wird sich schwertun, wieder
Weitere Kostenlose Bücher