Die Wanifen
ihn dazu, auf seinen Traum zu verzichten.«
Alfanger starrte sie aus glänzenden Augen an und biss sich auf die Lippe. Wieder dieser schmerzerfüllte Gesichtsausdruck, den er schon seit Wochen aufsetzte, wenn er sie ansah.
»Ainwa … Ich möchte, dass du mir gut zuhörst! Ich werde dir jetzt etwas sagen, und ich bitte dich, so schwer es auch sein mag, es für den Augenblick zu vergessen. Morgen ist die Nacht des Blutmonds und du wirst …«
»Für diesen Blutmond Mist hab ich jetzt keinen Kopf! Ich muss mich mit Gorman treffen.«
»Ainwa, du musst nicht nach Gorman suchen. Er … er hat die Aufgabe angenommen. Er wird heute noch zu dir kommen … und dich aus Ataheim verbannen.« Für einen Moment herrschte Stille.
»Warum … sagst du so etwas? Du bist mir wie ein Vater. Warum quälst du mich, warum lügst du mich an? Gorman würde das nie tun!«
»Er hat es getan«, sagte Alfanger und Ainwa sah, wie ihm eine Träne über die Wange rann. »Ohne einen Augenblick zu zögern.«
Ainwa starrte ihn an und suchte vergeblich nach einem Anzeichen, dass Alfanger ihr nicht die Wahrheit sagte – oder zumindest etwas verschwieg.
Heiße Tränen stiegen ihr in die Augen und ließen Alfangers trauriges Gesicht vor ihr verschwimmen.
Sie wandte sich langsam ab und hob den Eibenbogen auf, den sie gegen die Wand gelehnt hatte. Gedankenversunken strich sie über das rötliche Holz.
»Ainwa, ich weiß, es ist schwer, aber du musst mir jetzt zuhören. Du bist mehr als die Schülerin eines Heilers. Morgen, wenn der Blutmond am Himmel steht …«
Ainwa stieß einen heiseren Schrei aus und schleuderte den Bogen gegen die gegenüberliegende Wand.
»Quälst du mich noch, weil du es bald nicht mehr kannst?« Sie stürmte aus der Hütte, über die Stege, den Hang hinauf, bis sie das Grün des Waldes verschluckte.
Es dauerte nicht lange, bis sie die schmale Felsspalte im Erlenbruch erreicht hatte. Rasch durchquerte sie die Wiese und das Moor und ließ sich am Ufer des Sees auf den Waldboden sinken. Sie legte den Arm auf einen großen Stein und vergrub ihr Gesicht in der Ellenbogengrube.
Wie konnte das nur wahr sein?
Vergeblich wartete sie darauf, aus diesem Albtraum zu erwachen. Dass Gorman zu ihr hielt, war das Einzige gewesen, auf das sie sich in den vergangenen Monaten verlassen hatte, die lichte Seite in ihrem Leben … und jetzt, wo seine Häuptlingsehre auf dem Spiel stand, hatte Gorman sich ihrer entledigt, sie abgestreift wie ein lästiges Insekt. Er würde der fähigste Häuptling werden, den Ataheim je gesehen hatte und sie … sie würde er fortschicken … und vergessen …
Was hatte sie denn erwartet? Hatte sie wirklich geglaubt, Gorman würde wegen ihr auf das verzichten, auf das er sein Leben lang hingearbeitet hatte? War sie wirklich so leichtgläubig gewesen?
Ja! Ja, das war sie, und das machte die Sache noch viel schlimmer.
Sie war damit vermutlich dem Tod geweiht, aber das drang kaum in ihr Bewusstsein. Als Ausgestoßene würde sie den Winter nicht überleben und welches Volk würde sie schon aufnehmen, die Verbannte, die nicht jagen konnte?
Ainwa begann, mit der Faust auf den Stein einzuschlagen. Heiseres Schluchzen drang aus ihrer Kehle. Sie wollte nichts mehr fühlen, gar nichts mehr, nie wieder …
Sie hasste sich dafür, dass sie so kläglich schluchzte wie ein kleines Kind. Sie würde Gorman jedenfalls nicht die Genugtuung bieten, sie so zu sehen, wenn er sie verbannte. Aufrecht und mit eisiger Verachtung würde sie ihm begegnen.
Wieso musste es nur so wehtun?
Ainwa hörte ein seltsames Rauschen, gefolgt von einem tiefen Knarzen.
Sie blickte erschrocken auf. Vor ihren Augen neigten sich die riesigen Bäume zur Seite. Die Oberfläche des kleinen Sees kräuselte sich. Wellen schwappten ans Ufer und spritzten ihr ins Gesicht. Ihre Finger krallten sich um den Stein, auf den sie sich gelehnt hatte. Sie spürte einen Lufthauch im Nacken und vernahm ein tiefes Grollen.
Ainwa sprang auf und stolperte ein paar Schritte zurück. »Du? Was tust du hier?«
Die Bäume bogen sich noch tiefer dem Boden entgegen. Etwas stupste sie gegen die Brust.
»Wie kannst du es wagen, hierher zu kommen? Ich hätte ein schönes Leben haben können, wenn du nicht gewesen wärst, du Monster!«
Ein leichter Wind zog auf.
»Du bist schuld an allem«, rief sie. »Nichts von alldem wäre passiert, wenn du mich in Ruhe gelassen hättest.«
Ein ohrenbetäubendes Brüllen erschallte. Ainwa duckte sich und presste
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