Die Wassermuehle
wieder deinen Sohn loswerden?“
„Ich bitte dich, Hedwig! Es ist bloß so, dass ich am Freitag zum Shopping nach New York fliege. Kann ich Christoph-Sebastian auf dem Weg zum Flughafen bei euch vorbeibringen?“
„Ich muss arbeiten.“
„Und Klaus?“
„Was ist mit deinem Mann?“
„Bernd ist auf einer Tagung in Wien.“
Dass Klaus sich von seinem Bruder zur Patenschaft für Christoph-Sebastian hatte überreden lassen, nahm Hedi ihm bis heute übel. Sie mochte weder Bernd noch Anette. Und Christoph-Sebastian war das ungezogenste Kind, das ihr je begegnet war.
„Christoph-Sebastian freut sich so sehr auf einen Besuch bei euch“, sagte Anette.
„Sicher. Es macht ja auch Spaß, den DVD-Player mit Butterkeksen zu füllen und unsere Wohnzimmermöbel grün anzustreichen.“
„Er hat es nicht böse gemeint. Außerdem hat Bernd alles bezahlt.“
„Du wolltest mich wegen Kindesmisshandlung anzeigen!“
„Wie konnte ich ahnen, dass Christoph-Sebastian sich so gekonnt in seinem Gesicht herummalt?“
„Wie konnte ich ahnen, dass dein Sohn, statt Zähne zu putzen, meine Kakteensammlung rasiert? Du musst dein Shopping verschieben. Klaus hat am Freitag Nachtdienst. Tschüss.“
„Nein, nein, es gibt nichts Neues“, sagte der Kommissar. „Wir drehen uns eigentlich nur im Kreis.“
„Warum soll es euch besser gehen als mir“, murmelte Hedi, schaltete den Fernseher aus und ging ins Bett.
K APITEL 4
K laus war noch nicht von der Nachtschicht zurück, als Hedi am nächsten Morgen aus dem Haus ging. Früher hatte er angerufen, wenn es später wurde, und in ihrer Nachtdienstwoche war er regelmäßig mit Uli auf einen Kaffee im Krankenhaus vorbeigekommen. Jahrelang hatte Hedi sich Sorgen gemacht, wenn er nicht pünktlich heimkam. Längst hatte sie damit aufgehört.
Durch den Dunst über den Häusern schien der Mond; sein Licht reichte nicht, um Einzelheiten im Gesicht der Lächelnden Frau zu erkennen. Es war kalt. Aber der Tag versprach sonnig zu werden.
Nach der Morgenvisite wurde die alte Frau Beck von Zimmer fünfhundertvier entlassen. Tagelang hatte sie darauf gedrängt. Als anstelle ihrer Tochter ein Taxifahrer kam, um sie abzuholen, weinte sie und weigerte sich mitzugehen. Hedi versuchte vergeblich, sie zu trösten. Sie gab dem Taxifahrer einen Wink, draußen zu warten.
„Ihre Tochter ist berufstätig, Frau Beck, oder?“, fragte sie, als er das Zimmer verlassen hatte.
„Aber sie hat mir versprochen, mich heimzufahren!“
„Bestimmt hat sie so schnell nicht freibekommen. Eigentlich wären Sie ja auch erst morgen dran gewesen, hm?“
„Sie hat versprochen zu kommen!“, beharrte die alte Frau.
Hedi hatte die Angst vor der Einsamkeit zu oft in den Gesichtern ihrer Patienten gesehen, um sie nicht zu erkennen. „Haben Sie eine Telefonnummer, unter der ich Ihre Tochter erreichen kann?“
Frau Beck kramte in ihrer Manteltasche und gab Hedi einen verknitterten Zettel.
Der Taxifahrer wartete im Flur. Hedi bat ihn um zwei weitere Minuten Geduld. Als sie kurz darauf Frau Beck sagte, dass ihre Tochter mit den Kindern ganz bestimmt am frühen Nachmittag vorbeikomme, brach sie erneut in Tränen aus. Diesmal vor Freude. Hedi wunderte sich, wie einfach es war, einen Menschen glücklich zu machen. In solchen Momenten liebte sie ihren Beruf.
Das Bett in Zimmer fünfhundertvier blieb nicht lange unbelegt. Noch vor dem Schichtwechsel wurde eine Achtzigjährige mit einem Oberschenkelhalsbruch eingeliefert. Ihr zwei Jahre älterer Ehemann wich nicht von ihrer Seite.
In der Wohnung war es still, als Hedi mittags nach Hause kam. Sascha und Dominique waren noch in der Schule, Klaus schlief. Das Frühstücksgeschirr hatte er in die Spülmaschine geräumt, den Brotkorb und die leere Kaffeekanne auf die Anrichte gestellt. Hedi wischte ein paar verbliebene Krümel vom Tisch und öffnete das Fenster.
In dem Ahornbaum vor dem Haus sang eine Amsel. Ein buntbelaubter Zweig reichte bis zur Fensterbrüstung. Hedi riss ein Blatt ab; andere lösten sich und trudelten nach unten. Das Blatt in ihrer Hand roch nach Vergänglichkeit. Sie ließ es fallen. Schon als Kind hatte sie Sentimentalitäten verabscheut. Nur zu Weihnachten machte sie eine Ausnahme. Und in der alten Mühle bei Tante Juliette. Sie sah in den wolkenlosen Oktoberhimmel hinauf und bekam Sehnsucht.
Sie setzte Kaffee auf, ging ins Schlafzimmer, knipste das Licht an und musste lächeln. Klaus hatte das Kissen unter seinem Kopf zusammengeknüllt und das
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