Die Wassermuehle
vergangen waren, seit sie als Kind unter den hohen Bäumen ihre ersten Steinpilze gefunden hatte! Bis zu ihrem vierzehnten Geburtstag hatte sie fast alle Ferien in der Eichmühle verbracht und sich nichts Schöneres vorstellen können, als Bachkiesel zu sammeln, Kirschen aus Juliettes Garten zu naschen oder ihr Frühstücksei nestwarm aus dem Stall zu holen.
An das Wäldchen schlossen sich hügelige Wiesen an, und in ihrem Grund, von Obstbäumen umgeben, lag Juliettes Zuhause: zwei schindelgedeckte, im rechten Winkel zueinander stehende Fachwerkgebäude. Über dem größeren breitete sich die Krone einer alten Eiche aus, die der Mühle ihren Namen gegeben hatte.
Das Mühlhaus stammte aus dem siebzehnten Jahrhundert und war mehrfach umgebaut worden. Im rechten Teil wohnte Juliette, der linke war seit Jahrzehnten ungenutzt. Mahlwerk und Wasserrad standen schon still, als Hedi ihren ersten Sommer im Odenwald verlebte; auf dem verstaubten Balkenboden hatte sie Verstecken gespielt.
Etwa zweihundert Meter vor der Mühle kreuzten sich Bach und Straße. Zwischen Schlehensträuchern und Birken tauchte eine schmale Holzbrücke auf. Hedi schaltete zurück, und der Opel rumpelte über die verwitterten Bohlen. An Juliettes Garten vorbei fuhr sie in den Hof und parkte vor dem kleineren Gebäude, das gute hundertfünfzig Jahre jünger war als die Mühle und früher als Scheune, Stall und Geräteraum gedient hatte. Hedi erinnerte sich an zwei gescheckte Kühe, schwarze und weiße Kaninchen, schmutzige Schweine und an die Ziege Rosemarie. Geblieben waren die Kaninchen. Den Geräteraum nutzte Juliette seit Jahren als Unterstand für ihren ausrangierten alten Käfer.
Hedi ließ den Wagen offen und ging zum Mühlhaus. Efeu und wilder Wein wuchsen bis aufs Dach hinauf. Der rechte Klappladen vor Juliettes Schlafzimmerfenster hing schief. Die Bourbonrosen vor dem Haus waren gestutzt; in einem Steintrog neben der Haustür blühte Heidekraut. Der Wein färbte die Fassade rot. Wo die Blätter gefallen waren, zeigten sich rissige Balken und Gefache, aus denen Lehm bröckelte. Ein Mühlstein und ein Menschenherz / Wird stets herumgetrieben. / Wo beides nichts zu reiben hat, / Wird beides selbst zerrieben.
Der Hausspruch über der Tür war verblasst, aber Hedi kannte ihn auswendig. Sie war im Begriff zu klingeln, als sie das Hollandrad sah. Es stand gegen den efeubewachsenen Stamm der Eiche gelehnt. Das Prinzesschen war da! Am liebsten wäre sie auf der Stelle umgekehrt, aber dazu war es zu spät. Die Haustür ging auf.
„Hedi! Was für eine Überraschung!“ Juliettes von unzähligen Fältchen durchzogenes Gesicht zeigte überschwängliche Freude. Sie umarmte ihre Nichte und küsste sie auf beide Wangen.
„Hallo, Tante Juliette. Ich hatte heute überraschend Zeit, und da dachte ich ...“
„Gut gedacht, Kind! Du kommst genau richtig. Wir haben Apfelstrudel gemacht.“
„Du hast Besuch?“, fragte Hedi gespielt überrascht.
„Ja. Elli ist da.“ Juliette ging durch den schummrigen Flur voraus ins Wohnzimmer, Hedi folgte lustlos.
Das Letzte, was sie sich wünschte, war, den Nachmittag in Gesellschaft von Elli zu verbringen, die eigentlich Elisabeth Stöcker hieß und im Dorf früher Prinzesschen genannt worden war. Sie saß auf Juliettes zerschlissenem Sofa und grüßte freundlich. Hedi grüßte zurück und setzte sich ebenfalls. Der Tisch war für zwei Personen gedeckt. Neben dem Strudel stand ein Glaskrug mit Vanillesauce. Es duftete nach Äpfeln, Nüssen und Zimt. Juliette holte noch einen Teller und Besteck aus der Küche.
Elisabeth schnitt den Strudel auf. „Sie haben Glück. Eine halbe Stunde später, und wir hätten alles ratzeputz aufgegessen.“
Hedi betrachtete ihre schwieligen Hände, das rotwangige Gesicht, die altmodische Frisur: Elisabeth Stöcker war keine schöne Frau, aber auch nicht hässlich. Sie wirkte dick, aber sie war es nicht. Hedi kannte sie fast nur im Kittel, aber heute hatte sie ein dunkles schlichtes Kleid an. Sie war das Urbild einer Odenwälder Bäuerin. Nur die grünen Augen passten nicht. Aber selbst die rechtfertigten es in keiner Weise, sie Prinzesschen zu nennen. Schon damals nicht, als Hedi beschlossen hatte, die dazugehörige Person nicht zu mögen.
„Wir haben eine prächtige Tomatenernte gehabt“, sagte Juliette. „Du kannst dir nachher welche mitnehmen. Große gelbe, kleine gelbe, rotgrüngestreifte, orangefarbene, braune, violette, flaschenförmige ... Was du willst.“
Hedi sah
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