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Die Weimarer Republik

Die Weimarer Republik

Titel: Die Weimarer Republik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunther Mai
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Beharrungsvermögen der alten Eliten, die Dauerhaftigkeit der kollektiven Mentalitäten, die Gewohnheiten der Lebensweisen, die Langlebigkeit kultureller Deutungsmuster und ideologischer Weltinterpretationen. Zwar war der Adel 1918 fast überall seiner rechtlichen Privilegien und seiner politischen Institutionen beraubt worden, doch nicht (bzw. kaum) seiner ökonomischen Grundlagen, seines politischen Einflusses und seiner kulturellen Hegemonie auf dem Land. Jedoch verlor die adelsdominierte Großlandwirtschaft zunehmend die Gefolgschaft der Bauern, die sich in eigenen Parteien, Bünden und Verbänden organisierten. Tiefer noch in sich gespalten war das industrielle «Lager», da Unternehmer und Gewerkschaften zu keinem Konsens fanden, sondern sich weiter in dem tradierten Klassenkampfschema bekämpften. So entstand eine äußerst labile, vielfach gebrochene Gleichgewichtssituation zwischen den sozialen Gruppen bzw. den ökonomischen Klassen. Die diesen entsprechenden politischen Lager blockierten sich im Kampf um die politische und kulturelle Hegemonie wechselseitig. Diese Blockade schien zuletzt nur noch durch Gewalt überwindbar: von unten durch Revolution oder von oben durch Diktatur. Zu keiner Zeit in der jüngeren Geschichte Europas war eine solche Häufung gewalthafter innenpolitischer Auseinandersetzungen zu beobachten: von militanten Massenstreiks bis zum Generalstreik, von Putsch- und Revolutionsversuchen bis zum erbitterten Bürgerkrieg.
    Eine Volksfront wie in Frankreich und Spanien in den 1930er-Jahren war angesichts der bitteren Feindschaft zwischen SPD und KPD im Reich ausgeschlossen. Aber auch die autoritären Präsidialkabinette scheiterten an einer politischen Lösung des Konfliktes zwischen Landwirtschaft und Industrie, und zwar am erbitterten Widerstand der Ersteren. Sie waren zu sehr aufeinen Ausgleich der Interessen bedacht gewesen, nicht autoritär genug. Jetzt stellte sich die Frage, wer den nächsten Versuch übernehmen sollte: ob erneut Franz von Papen oder Alfred Hugenberg oder Adolf Hitler. Die beiden Ersteren waren dezidiert proagrarisch, und Hugenberg galt als der Rücksichtsloseste, gefährlicher vielleicht noch als Hitler, der zumindest auf einen starken agrarischen Flügel in seiner Partei Rücksicht zu nehmen hatte. Im Kabinett saßen sie nach dem 30. Januar 1933 alle drei: Hitler als Kanzler, Papen als Vizekanzler, Hugenberg als Wirtschafts- und Ernährungsminister. Doch trotz dieser Konstellation und trotz symbolischer Aufwertung sah die Landwirtschaft ihre Erwartungen bald enttäuscht. Hugenberg war bereits im Juli 1933 aus dem Kabinett verdrängt, Papen folgte im Juli 1934. Spätestens mit dem Vierjahresplan 1936 war entschieden, dass der Landwirtschaft im Rahmen der Rüstungswirtschaft nur eine der Industrie nach-, gar untergeordnete Rolle zukam.
    Die Weimarer Republik hatte mit der wohl schwierigsten Phase des Wandels von einer agrarisch geprägten zu einer industriekapitalistisch dominierten Gesellschaft zu kämpfen. Doch traf dies in der Zwischenkriegszeit für ganz Europa zu, vergleichbar auch für Nord- und Südamerika, selbst Teile Asiens. Diese agrarische Transition verlief vor dem Hintergrund einer raschen Abfolge konjunktureller und struktureller Krisen: von der «Großen Depression» 1873–1895 über Kriegswirtschaft, Inflation oder Deflation 1914–1920/23 bis zur Weltwirtschaftskrise 1929–1934/36.
    Der Weltkrieg und die an seinem Ende stehenden Revolutionen haben diesen Wandel nicht verursacht, auch wenn die Zeitgenossen das verkürzend so interpretierten, wohl aber dramatisch beschleunigt. Dennoch: Der Erste Weltkrieg war die eigentliche Revolution, die Zwischenkriegszeit die Suche nach neuen Ordnungsmustern. In der Zwischenkriegszeit bildeten sich in Europa fünf solcher Ordnungsmuster bzw. Entwicklungspfade heraus: 1. der westeuropäische des schwierigen, aber erfolgreichen parlamentarischen Konsenses; 2. der skandinavische des parlamentarischen Ausgleichs zwischen Sozialdemokratie und Bauern; 3. der deutsch-italienische des totalitärunterdrückten Dissenses; 4. der ost- und südeuropäische der autoritären Entwicklungsdiktaturen; 5. der russische des bolschewistischen Experimentes. Die Diktatur war – wie in vielen Staaten Europas die parlamentarische Demokratie – ein historisch neues Experiment, eine den Umständen der Zeit scheinbar angemessene Problemlösungsvariante. Als Modell galt vielfach Italien: eine «gelenkte Demokratie», wie Mussolini sie

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