Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
dafür jedoch eine andere Erklärung, als ich sie in diesem Buch biete. Die Autoren schreiben den Erfolg der IEM nicht der Weisheit der Menge aller IEM-Händler zu, sondern eher einer kleinen Minderheit von rationalen und weit blickenden Investoren – den »marginalen Investoren« bzw. »marginalen Händlern« -, welche das kluge Verhalten des Marktes prägen, indem sie kaufen oder verkaufen, wann immer IEM-PREISE ausufern (d. h. wenn sie vom echten Wert abweichen, was immer der sein mag). Das Gros der IEM-Händler ist, so wird hier argumentiert, voreingenommen und nicht sonderlich gut informiert, und falls sie tatsächlich für die Preisentwicklungen des Marktes maßgeblich sein sollten, so würden die Preise oft extrem daneben liegen; doch werde die Preisentwicklung in den IEM-MÄRKTEN eben entscheidend durch die Randgruppen bestimmt.
Die Vorstellung von »marginalen Investoren« wird auch von vielen Ökonomen zur Erklärung der relativen Leistungsfähigkeit der finanziellen Märkte herangezogen. Das scheint, rein intuitiv, eine plausible Erklärung zu sein, weil sie einerseits unserer tief verwurzelten Überzeugung entspricht, dass immer nur einige wenige hochintelligente Personen im Besitz der Wahrheit sind, und andererseits das Funktionieren der Märkte nicht in Abrede stellt. Diese Vorstellung ist dennoch das reinste Märchen. Denn marginale einzelne Händler (bzw. Randgruppen von Händlern), welche Preise diktieren, zu denen alle Anleger kaufen oder verkaufen, sind schlicht ein Ding der Unmöglichkeit. Selbst auf Aktienmärkten, auf denen manche Anleger über enormes Kapital verfügen, hat kein Investor genügend finanzielle Mittel, um die Macht des aggregierten Kaufens und Verkaufens aller anderen Investoren übertrumpfen zu können. (Natürlich steht es im Vermögen eines individuellen Anlegers, einen Vermögenswert zu erwerben, indem er dafür zu viel bezahlt, in solch einem Fall kauft auf dem Markt lediglich ein Anleger und bestimmt damit den Preis.) Das heißt, die Entscheidungen eines Einzelnen oder einer kleinen Gruppe von Investoren werden sofort umgestoßen, wenn »die Menge« anderer Meinung ist.
Das trifft auf die IEM ganz offensichtlich zu, da die Einsätze beim Kaufen und Verkaufen von Termingeschäften dort auf maximal 500 Dollar begrenzt sind. Wenn also das Sammelurteil seitens der Mehrheit von IEM-Händlern wirklich irrational und ungenau wäre, würde es die Wirkung der dagegen laufenden Bemühungen blitzgescheiter Investoren marginalisieren. Um ein konkretes Beispiel aus dem IEM-Markt zur US-Präsidentschaftswahl von 1996 zu nehmen, dessen genaue Prognosen ausdrücklich marginalen Händlern zugeschrieben worden ist: Laut Forsythe u. a. waren in diesem Markt von insgesamt 192 Händlern 28 »marginal«, und der durchschnittliche »marginale« Händler hatte im Vergleich zum durchschnittlichen »normalen« Händler die doppelte Summe investiert. Daraus ergibt sich, dass die »klugen« Händler aber nur etwa ein Viertel so viel Kapital wie die »dummen« Händler kontrollierten. Und das bedeutet: Wenn das kollektive Urteil der vermeintlich dummen Händler schlecht war, so hätten die klugen Händler keine Chance gehabt, es auszugleichen bzw. umzukehren.
In ihrem Beitrag aus dem Jahr 1992 liefern Forsythe u. a. überzeugende Belege dafür, dass die Händler, die sie als »marginal« einstuften, nachrichtliche Ereignisse aufmerksamer verfolgten und in ihren Urteilen objektiver waren als die meisten der IEM-Händler (die davon tendenziell durch ihre politischen Neigungen abgehalten wurden). Dennoch bleibt der Eiwand bestehen, dass die marginalen Händler für sich allein einfach nicht über die Mittel verfügten, die Preise zu bestimmen; folglich können sie auch nicht allein für die Genauigkeit des Gruppenurteils verantwortlich gewesen sein.
Wichtiger noch ist der Einwand, dass es einfach unsinnig ist zu meinen, dass in einem Markt wie dem IEM oder dem Aktienmarkt einige Investoren »marginal« und andere nichtmarginal sind. Alle Anleger können sich gleichermaßen mühelos im Markt einbringen oder ausklinken. Im Übrigen haben zwei Investoren mit dem gleichen Kapital den gleichen Einfluss auf die Preise, auch dann noch, wenn einer der beiden aktiv kauft und verkauft und der andere die Hände in den Schoß legt. Ein Wertpapier zu kaufen oder zu verkaufen berührt den Preis des Wertpapiers nicht mehr, als es nicht zu kaufen (wenn man es nicht besitzt) oder zu verkaufen (wenn man es besitzt).
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