Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
IEM-Papiere am Vorabend der Wahl differierten bei Präsidentschaftswahlen nur um 1,37, bei anderen US-Wahlen bloß um 3,43 und bei Wahlen im Ausland lediglich um 2,12 Prozent mit dem realen Wahlergebnis. (Es handelt sich hier um absolute Zahlen, das heißt, der Markt hätte um 1,37 Prozent danebengelegen, wenn seine Vorhersage eingetroffen wäre, dass Al Gore, der Präsidentschaftskandidat der Demokraten, 48,63 Prozent der Wählerstimmen erhalten würde – in Wirklichkeit erhielt Al Gore bekanntlich 50 Prozent.) Dem IEM ist es mittlerweile gelungen, die etablierten demoskopischen Institute an Präzision zu übertrumpfen; es hat sogar schon Monate vor der jeweiligen Wahl mit exakteren Zahlen Aufsehen erregt. So sind etwa bezüglich der US-Präsidentschaftswahlen zwischen 1988 und 2000 nicht mehr und nicht weniger als 596 verschiedene Wahlumfragen veröffentlicht worden. Am Tag ihrer Bekanntgabe war der IEM-Marktpreis in drei Vierteln der Fälle genauer. Wahlumfragen neigen zu großer Unbeständigkeit; die Stimmanteile der Kandidaten unterliegen mitunter starken Schwankungen. Die IEM-Vorhersagen ändern sich zwar ebenfalls laufend, sie sind aber erheblich weniger volatil; zu dramatischen Veränderungen kommt es hier nur infolge neuer Informationen. Eben das macht sie als Vorhersagen verlässlicher.
Diese Tatsache ist umso interessanter, als das IEM alles andere als ein Riese ist – auf seinen Märkten haben sich nie mehr als um die 800 Teilnehmer engagiert, die im Übrigen auch keineswegs für das Wahlvolk repräsentativ sind. Sie setzen sich überwiegend aus Männern und überproportional aus Bürgern des Staates Iowa zusammen (wenngleich deren Anteil inzwischen schrumpft). Obwohl auf diesem Markt die Beteiligten also nicht ihr eigenes Verhalten voraussagen, sind ihre Prognosen zum Wahlverhalten der Gesamtbevölkerung genauer als Direktbefragungen der Wähler.
Der Erfolg des IEM hat die Gründung anderer, ähnlicher Märkte nach sich gezogen; dazu gehört die Hollywood Stock Exchange (HSX), die es dem Publikum ermöglicht, auf Kinokasseneinnahmen, Besucherzahlen am Premierenwochenende und Oscar-Kandidaten zu wetten. Ihren bemerkenswertesten Erfolg erlebte die HSX im März 2000. Damals war ein Team von zwölf Reportern des Wall Street Journal über Mitglieder der Academy of Motion Picture Arts hergefallen, um diesen die Ergebnisse ihrer Oscar-Entscheidungen zu entlocken. Die Academy war darüber alles andere als glücklich. Ihr Präsident machte dem Wall Street Journal öffentlich den Vorwurf, »uns vor der Nacht der Oscar-Verleihungen auszustechen«, und die Academy rief ihre Mitglieder auf, nicht mit den Reportern zu sprechen. Da das Wall Street Journal Anonymität zusicherte, enthüllten dann aber doch nicht wenige – genau 356, das heißt sechs Prozent der Academy-Mitglieder -, wie sie ihre Stimmzettel ausgefüllt hatten. Die Zeitung veröffentlichte die Ergebnisse ihrer Umfrage am Freitag vor der Verleihungszeremonie und nannte für die sechs Hauptkategorien – »Bester Film«, »Bester Regisseur«, »Bester Schauspieler«, »Beste Schauspielerin«, und »Beste männliche« wie »Beste weibliche Nebenrolle« – die Namen der Preisträger. Als dann während der Verleihungszeremonie die Umschläge geöffnet wurden, erwiesen sich – zum Entsetzen der Academy – die Vorhersagen des Wall Street Journal als fast korrekt: Sie trafen für fünf der sechs Kategorien zu. Übertroffen wurde das alles jedoch noch von der HSX: Sie hatte in allen sechs Kategorien auf den tatsächlichen Sieger gesetzt. Und im Jahr 2002 sagte das HSX – eine wohl noch eindrucksvollere Quote – 35 der 40 Oscar-Preisträger richtig voraus.
Die Prognosen der Premieren-Einspielergebnisse des HSX sind weniger beeindruckend und akkurat als die Wahlvoraussagen des IEM, doch wie ein Vergleich mit sonstigen Hollywood-Vorhersagemethoden ergab, den Anita Elberse, eine Marketing-Professorin an der Harvard Business School, durchführte, bedeuten die Endwerte der HSX-Papiere am Vorabend der Uraufführungen die besten verfügbaren Vorhersagewerte für die Kasseneinnahmen des ersten Wochenendes. Infolgedessen vermarktet die HSX-Eigentümerin Cantor Index Holdings die Ergebnisse inzwischen bei den Hollywood-Studios.
Einer der interessanten Aspekte von Märkten wie IEM oder HSX beruht darauf, dass sie auch ohne großen – wenn nicht gar ganz ohne – finanziellen Einsatz funktionieren. IEM ist ein »Echtgeldmarkt«, dessen Investitionslimit jedoch
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