Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
Weltgesundheitsorganisation (WHO) davon in Kenntnis, dass seit November des Vorjahres in der Provinz Guangdong 305 Personen unter einer schweren Erkrankung der Atemwege – mit fünf tödlichen Ausgängen – litten. Die Symptome waren grippeartig; Labortests hatten aber ergeben, dass der Influenza-Virus als Krankheitserreger ausschied. Wenige Wochen später wurde ein Mann nach der Rückkehr von einer Reise nach China und Hongkong wegen einer schweren Erkrankung der Atemwege in Hanoi in ein Hospital eingeliefert. Ähnliche Symptome traten bei etlichen in einem Hongkonger Hospital eingelieferten Arbeitern auf. Danach liefen in Genf laufend Meldungen über weitere solche Krankheitsfälle ein. Anfang März schien festzustehen, dass es sich bei SARS, wie die Erkrankung inzwischen benannt worden war, nicht um eine neue Grippeart, sondern um eine bis dato unbekannte, völlig neue Krankheit handelte. Die WHO gab daraufhin eine weltweite SARS-Warnung aus. Sie riet von Reisen nach Südostasien ab und regte, um über neuerliche Krankheitsfälle unverzüglich informiert werden zu können, ein globales Überwachungssystem an.
Es war enorm wichtig, die Ausbreitung dieser Krankheit zu verfolgen, denn eines stand schon sehr früh fest: SARS wurde direkt, von Mensch auf Mensch, übertragen, und das bedeutete, dass es sich notfalls nur mittels Quarantänemaßnahmen eindämmen lassen würde. Nicht minder wichtig war allerdings die Bestimmung der Krankheitsursache, weil sie die Entwicklung entsprechender Diagnoseverfahren und eines Impfwirkstoffs ermöglichen würde. Also veranlasste WHO unverzüglich weltweit Maßnahmen zur Erforschung des SARS-Erregers. Am 15. und 16. März nahm die Behörde Kontakt mit elf Labors auf – in Frankreich, Deutschland, den Niederlanden, Japan, USA, Hongkong, Singapur, Kanada, Großbritannien und China – und bat sie zu diesem Zweck um Zusammenarbeit, der alle ausnahmslos prompt zustimmten. Daraufhin verkündete die Weltgesundheitsorganisation am 17. März die Gründung eines »mehrzentrigen kooperativen Forschungsprojekts«. Die Laboratorien hielten untereinander tägliche Telekonferenzen ab, während deren Erkenntnisse weitergegeben, künftige Forschungsmethoden besprochen und laufend eine Evaluierung von allfälligen Resultaten diskutiert wurden. Auf einer Website der WHO veröffentlichten sie elektronenmikroskospische Fotos von Viren, die dem Gewebe von SARS-Opfern entnommen worden waren – jedes von ihnen hätte zunächst einmal Ursache dieser Krankheit sein können -, sowie Analysen dieser Viren und der Testresultate. Die Laboratorien tauschten regelmäßig Virenproben aus, sodass sie ihre Arbeiten wechselseitig überprüfen und voneinander lernen konnten.
Es war eine geradezu exemplarische Kooperation, die es den Forschungseinrichtungen gestattete, gleichzeitig an denselben Gewebeproben zu arbeiten, ihre Forschungen um ein Vielfaches zu beschleunigen und ihre Arbeitsweise besonders effektiv zu gestalten. So gelang es den Labors bereits binnen weniger Tage, eine Menge der zunächst vermuteten Erreger auszuklammern, darunter auch eine Reihe von Viren, die bei einigen, aber nicht bei allen SARS-Opfern identifiziert worden waren. Am 21. März konnten Forscher an der Universität Hongkong dann einen Virus isolieren, der tatsächlich als Erreger infrage kam. Am selben Tag isolierten Wissenschaftler des Center for Disease Control in den USA einen anderen Virus, der unter dem Elektronenmikroskop wie ein so genannter Coronavirus ausschaute. Das war in gewissem Sinne eine Überraschung, denn Coronaviren, die bei Tieren heftige Erkrankungen verursachen, waren bei Menschen bis dahin eigentlich nur für eher milde Auswirkungen bekannt. Im Laufe der folgenden Woche entdeckten am Projekt beteiligte Laboratorien den Coronavirus jedoch in einer ganzen Reihe Gewebeproben von Personen, bei denen SARS diagnostiziert worden war. Labors in Deutschland, in den Niederlanden und in Hongkong begannen daraufhin, Serientests mit diesem Virus durchzuführen. Anfang April zeigten in den Niederlanden Affen, die mit dem Coronavirus infiziert worden waren, sämtliche SARS-Symptone. Am 16. April – also nur einen Monat nach Beginn dieser Zusammenarbeit – waren die Laboratorien sich hinreichend sicher, um bekannt zu geben, dass es sich bei dem Coronavirus wirklich um den SARS-Erreger handelte.
Die Identifizierung des SARS-Erregers ist in jeder Hinsicht eine bemerkenswerte Leistung. Und nun stellen wir wie immer, wenn wir
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