Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
durchführte. Der Ansatz von Helbing und Huberman besteht im Wesentlichen in der Definition einer idealen Verkehrslage, die sie mit dem Begriff »kohärenter [zusammenhängender] Fluss« zusammenfassten. Im zusammenhängenden Fluss bewegen sich die Autos als ein »fester Block« voran, und obwohl die Wagen langsamer unterwegs sind, als es den Fahrern eigentlich lieb ist, kommt der Gesamtverkehr mit optimaler Geschwindigkeit zügig vorwärts. Das heißt: Ein bestimmter Punkt wird von der pro Minute höchstmöglichen Anzahl Autos passiert.
Ein kohärenter Fluss kann – das ist ein besonderes Merkmal dieses Projekts – aber immer nur dann entstehen, wenn eine Straße von hinreichend vielen Autos befahren wird. Denn sonst kommt es zu einem häufigen Fahrbahnwechsel, zu abrupten Beschleunigungen und Bremsungen – Faktoren, die einen gleichmäßigen Verkehrsfluss zunichte machen. Bei einem individuellen Fahrstil käme man persönlich vielleicht rascher ans Ziel; und weil sich die Autofahrer in einem einheitlichen Fluss individuell nun einmal langsamer voranbewegen, müssten zwei Dinge gegeben sein, damit es tatsächlich zu einem zusammenhängenden Fluss kommt: Man müsste eine Methode finden, um die Autofahrer von ihrem andauernden Wechseln zwischen Beschleunigen und Verlangsamen abzubringen, und man müsste eine Möglichkeit finden, das Einfädeln von den Zubringern aus zu regulieren. Es ist, wie sich erwiesen hat, nicht nur wichtig, wie viele Fahrzeuge, sondern auch, wann diese Fahrzeuge in die Autobahn einbiegen.
In Zusammenarbeit mit seinem Kollegen Martin Treiber hat Helbing jüngst die enorm positiven möglichen Auswirkungen von zwei Innovationen auf den Verkehrsfluss aufgezeigt. Bei der ersten der beiden Neuerungen handelt es sich um ein »Fahrer-Unterstützungsprogramm« – eine Kombination aus einem Miniatur-Radarsystem und Bewegungssensoren, die Autofahrern das Einhalten eines gleichmäßigen Abstands ermöglichen und sie auf Risiken, die vor ihnen liegen, wie auf Gefahren aufmerksam machen, die von hinten drohen – Gefahren, die sie wegen toter Winkel eventuell nicht wahrnehmen könnten. In der Theorie könnten dergleichen Unterstützungsprogramme das Autofahren generell erleichtern und es den Damen und Herren am Steuer ersparen, öfter als gewünscht bremsen zu müssen. Manche Automobilhersteller haben bereits damit begonnen, künftige Modelle mit solcher Technologie auszustatten. Es wäre gar nicht mal erforderlich, dass sich alle Autofahrer ihrer bedienten. Denn wie Helbing und Treiber nachweisen konnten, wäre ein Großteil der Verkehrsstockungen schon dann beseitigt, wenn zehn bis zwanzig Prozent der Wagen auf der Straße über die erwähnten Sensoren verfügten.
Die zweite Innovation steht einer Realisierung wesentlich näher. Sie bestünde schlicht und einfach in einer Verfeinerung der Ampelsysteme an den Zufahrtsstellen der Schnellstraßen, die in ganz Europa wie in den Vereinigten Staaten vielerorts bereits installiert wurden. In den USA sind solche roten Verkehrslichter im Allgemeinen auf einen simplen zeitlichen Rhythmus eingestellt; er gestattet etwa alle 30 Sekunden einem weiterem Fahrzeug die Auffahrt. Solch eine mechanisch willkürliche Regulierung bietet aber den Forschungsergebnissen von Helbing und Treiber zufolge keineswegs die bestmögliche Lösung des Problems. Man müsste einen Weg finden, Autos nur dann die Zufahrt zu einer Fernstraße zu gestatten, wenn dort Platz für sie ist – mit anderen Worten: wenn sie dort eine Lücke füllen und somit in der Lage sind, einen einheitlichen Verkehrsfluss mit zu unterstützen. (So etwas würde selbstverständlich die Installation eines Ampelsystems erfordern, das die dort jeweils herrschende Verkehrsdichte registriert und die Schaltung entsprechend steuert.) An den Zubringern würde es gewiss manchmal Wartezeiten von bis zu ein paar Minuten bedingen – eine Erfahrung, die man zunächst als recht ärgerlich empfinden würde. Nur – darauf weisen Helbing und Treiber zu Recht hin – würde damit die Gesamtfahrzeit für alle Autofahrer erheblich verringert. Wenn eine Menge von an und für sich gescheiten Autofahrern außerstande sein sollte, sich Verkehrsstaus zu ersparen – vielleicht wird es dank eines intelligent organisierten Fernstraßensystems einmal möglich.
ACHTES KAPITEL
Der Wissenschaftsbetrieb:
Kooperation, Konkurrenz und Reputation
Anfang Februar 2003 setzte das Gesundheitsministerium der Volksrepublik China die
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