Die Weisheit des Feuers
ihn. Sloans Wangen waren rot und blutig, wo er sie sich aufgekratzt hatte. Ihm lief die Nase und Tränen rannen aus dem Winkel seiner weniger stark verletzten linken Augenhöhle. Mitleid und Schuldbewusstsein wallten in Eragon auf. Es machte ihm keinen Spaß, Sloan in dieser Verfassung zu sehen. Der Metzger war ein gebrochener Mann, aller Dinge beraubt, die er im Leben geschätzt hatte, seiner Selbsttäuschung inbegriffen, und er, Eragon, hatte ihm das angetan. Er fühlte sich beschmutzt, als hätte er eine schändliche Tat begangen.
Es war notwendig,
dachte er,
aber niemand sollte so etwas tun müssen.
Wieder stöhnte Sloan, dann hörte man: »... nur ein Stück Seil. Ich wollte nicht... Ismira... Nein, nein, bitte nicht...« Sloans Gemurmel verebbte und in der darauffolgenden Stille legte Eragon ihm die Hand auf den Arm. Sloan erstarrte unter der Berührung. »Eragon...«, flüsterte er. »Eragon... ich bin blind und du schickst mich durchs Land... ganz allein. Ich bin verlassen und verflucht. Ich weiß, wer ich bin, und das halte ich nicht aus. Hilf mir; töte mich! Befrei mich von dieser Qual.«
Einem Impuls folgend, drückte Eragon Sloan seinen Rotdornstab in die rechte Hand. »Nimm ihn. Er wird dich auf deiner Reise begleiten.«
»Töte mich!«
»Nein.«
Ein krächzender Schrei entrang sich Sloans Kehle. Er schlug wild um sich und trommelte mit den Fäusten auf den Boden. »Grausam, du bist grausam!« Sein bisschen Kraft versiegte; keuchend und winselnd krümmte er sich noch mehr zusammen.
Eragon beugte sich über ihn, führte den Mund dicht an Sloans Ohr und flüsterte: »Ich bin nicht ohne Barmherzigkeit, deshalb gebe ich dir diese Hoffnung mit auf den Weg. Wenn du Ellesméra erreichst, dann wartet dort ein Zuhause auf dich. Die Elfen werden für dich sorgen und dir gestatten, für den Rest deines Lebens zu tun, was immer du willst, mit einer Einschränkung. Hast du Du Weldenvarden erst einmal betreten, dann kannst du den Wald nicht mehr verlassen... Sloan, hör mir zu, als ich bei den Elfen war, habe ich gelernt, dass sich der wahre Name eines Menschen im Laufe seines Lebens häufig verändert. Verstehst du, was das heißt? Es ist nicht bis in alle Ewigkeit festgelegt, wer du bist. Man kann sein Wesen neu formen, wenn man es nur will.«
Sloan gab keine Antwort.
Eragon ließ den Stab neben dem Metzger liegen und ging hinüber auf die andere Seite des Lagers, um sich auf dem Boden auszustrecken. Mit schon geschlossenen Augen murmelte er eine Beschwörung, die ihn vor Tagesanbruch wecken würde, und ließ sich dann in die tröstliche Umarmung seiner Wachträume gleiten.
Die Graue Heide war kalt, finster und ungastlich, als in Eragons Kopf ein leises Summen ertönte.
»Letta«,
sagte er und das Summen hörte auf. Stöhnend streckte er die schmerzenden Glieder, stand auf, hob die Arme über den Kopf und schüttelte sie, um die Blutzirkulation in Gang zu bringen. Sein Rücken fühlte sich so zerschlagen an, dass er nur hoffen konnte, es würde eine Weile dauern, bis er wieder eine Waffe schwingen musste. Er senkte die Arme und sah sich nach Sloan um.
Der Metzger war fort.
Lächelnd betrachtete Eragon die Fußspuren, die vom Lager wegführten, begleitet vom kreisrunden Abdruck des Stabes. Unsicher liefen sie in Schlangenlinien hin und her, aber ihre Hauptrichtung ging nach Norden, zum großen Elfenwald.
Ich wünsche mir, dass er es schafft,
dachte Eragon.
Ich wünsche es mir, weil es bedeuten würde, dass wir vielleicht alle im Leben eine Chance bekommen, unsere Fehler wiedergutzumachen. Und wenn Sloan sich bessert, an seinem Charakter arbeitet und sich mit dem Unheil, das er angerichtet hat, auseinandersetzt, wird er feststellen, dass seine Lage gar nicht so trostlos ist, wie er glaubt.
Eragon hatte Sloan nämlich verschwiegen, dass, wenn er ehrliche Reue zeigte und ein besserer Mensch wurde, Königin Islanzadi ihre Magier auffordern würde, seine Sehkraft wiederherzustellen. Aber das war ein Lohn, den Sloan sich verdienen musste, ohne vorher davon zu wissen, sonst würde er womöglich versuchen, die Elfen hinters Licht zu führen.
Eragon betrachtete die Fußspuren noch eine ganze Weile, dann hob er den Blick zum Himmel und sagte: »Viel Glück.«
Müde, aber zufrieden wandte er sich ab und machte sich auf den Weg über die Graue Heide. Er wusste, Richtung Südwesten standen die alten Steinformationen, wo Brom in seiner Diamantgruft ruhte. Er sehnte sich danach, einen Umweg zu
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