Die Weisheit des friedvollen Kriegers
einmal deine eigenen zu lesen.« Mit anderen Worten: Solange ich nicht das wahre Wesen meines eigenen Denkens erkennen – den Filter meiner Überzeugungen, Assoziationen und Interpretationen durchschauen – könnte, würde ich auch nicht in der Lage sein, jemand oder etwas anderes einigermaßen klar zu sehen.
Dabei ging es nicht um irgendwelche übersinnliche Kräfte oder Taschenspielertricks. Ich sollte einfach das Wesen meines Denkens durchschauen lernen. Erst wenn ich selbst genau wüsste, wie ich tickte, wäre ich
auch in der Lage, mich in andere Menschen hineinzuversetzen und ihr Denken und ihre Gefühle zu verstehen.
Mithilfe des Einfühlungsvermögens können wir uns auf einer höheren Ebene mit unseren Mitmenschen verbinden, als Schriftsteller, Freund und Mensch besser werden – ein voll ausgereifter friedvoller Krieger.
Dynamische Meditation
Aber solange die Athleten konzentriert an den Geräten turnten, verstummten auch die Gedanken der Zuschauer.
Jetzt wurde mir erstmals bewusst, was mir am Turnen so gut gefiel. Es schenkte mir immer wieder willkommene Atempausen im Chaos meiner lärmenden Gedanken. Wenn ich zur Riesenwelle am Hochreck oder zum Salto ansetzte, gab es für mich nur noch Konzentration und Bewegung, sonst nichts. Dann schwieg mein ewig plätschernder Gedankenfluss.
Diese Erkenntnis über Gedanken und Bewegung ist eine der wichtigsten, die wir überhaupt gewinnen können. Auf ihr beruhen alle Formen der Meditation in Bewegung, angefangen bei der Zen-Praxis des kinhin, der Gehmeditation bis hin zu Judo oder Aikido und so weiter. Im Japanischen enden viele Wörter, die sich auf die Kampfkünste beziehen, mit der Silbe do , »Weg« beziehungsweise »Pfad«. Der Begriff dojo zum Beispiel lässt sich mit »Schule des Weges« übersetzen. Darin kommt zum Ausdruck, dass die gelehrten Fertigkeiten nicht um ihrer selbst willen (oder um einen Wettbewerb zu gewinnen)
geübt werden, sondern als Mittel zu Erkenntnis und Weiterentwicklung.
Der Alltag findet nicht im Schneidersitz statt. Irgendwann öffnen wir die Augen auch wieder und gehen unseren täglichen Verrichtungen nach. Sitzmeditationen sind deshalb ein guter Anfang. Die Meditation in Bewegung stellt dann insofern eine Steigerung dar, als sie quasi ein Brücke ins Alltagsleben schlägt.
In der Stunde der Wahrheit – wenn wir etwa unsere Fähigkeiten vor Publikum unter Beweis stellen oder eine Prüfung ablegen müssen – bleibt unsere Aufmerksamkeit ganz im Körper, in der Bewegung. Die Bewegung wird zum Mantra, zum Zentrum unserer Aufmerksamkeit. Deshalb bringe ich den Leuten in einigen meiner Wochenendseminare auch das Jonglieren bei. Das ist eine sehr wirkungsvolle Form der Meditation, denn sie verschafft unserem ewig plätschernden Gedankenfluss eine kleine Pause, ist sozusagen ein Kurzurlaub für den Geist.
Natürlich kommen auch während einer dynamischen Meditation Gedanken auf. Aber wir hängen ihnen nicht länger nach und messen ihnen kein größeres Gewicht bei. Sie verlieren ihre Macht, ziehen unsere Aufmerksamkeit nicht auf sich, sie können unsere Gemütsverfassung nicht beeinflussen und auch unsere Entschiedenheit nicht schwächen. Während der dynamischen Meditation befreien wir unseren Körper einen Moment lang vom Kopf. Schlussendlich wird alles, was wir tun, zu einer dynamischen Meditation, und dann sind wir frei vom ewigen Geplapper unserer zufälligen Gedanken.
Erfahrung und Fantasie
Zurück ins Büro musste Socrates mich stützen. Als ich zitternd auf dem Sofa lag, wusste ich, dass ich nicht mehr jener naive, von seiner Wichtigkeit überzeugte junge Mann war, der sich vor wenigen Minuten – oder waren es Stunden oder Tage – auf den Stuhl in der grauen Nische gesetzt hatte. Ich fühlte mich alt, sehr alt.
Ich hatte das Leid der Welt gesehen, die Situation des seinen Gedanken ausgelieferten Menschen.
Auch die innere Reise, von der hier die Rede ist, war ein Produkt meiner Fantasie, allerdings beruhte sie auf persönlichen Erfahrungen. Socrates hatte mich nicht in eine andere Realität versetzt. Auch hierbei handelte es sich wieder um einen literarischen Kunstgriff, mit dem ich das Ziel verfolgte, die Leser so tief in die Geschichte hineinzuziehen, dass sie einen Erkenntnisprozess bei ihnen auslösen konnte.
Die Episoden, Träume und Visionen ließ ich mir einfallen, um zu zeigen, wie ein naiver, selbstbezogener junger Mann eine andere Lebensweise kennenlernte. Und ich lud meine Leser herzlich
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