Die Weisheit des friedvollen Kriegers
Campus umher – unrasiert, ungekämmt, entfremdet, verloren zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen den Annehmlichkeiten des normalen Lebens und dem beängstigenden Unbekannten, das mir Socrates zu bieten hatte.
In diesem leidvollen Zustand der psychischen Lähmung blieb mir gar nichts anderes übrig, als mich mit Fragen von Sinn, Leben und Tod zu beschäftigen. An diesem inneren Abgrund, vor dem ich stand, drang ich bis zum Kern meines Lebens, meiner Identität, meiner ganzen Existenz vor. Ich war nicht bereit, einen Schritt weiterzugehen und mich in den Tod zu stürzen, konnte mich aber in jeden hineinversetzen, der vor der entsetzlichen Tiefe dieses Abgrunds stand. Darüber zu schreiben war mein Versuch, diesen Menschen die Hand zu reichen und ihnen zu sagen: Die Geschichte, in der ihr euch befindet, ist noch nicht zu Ende. Niemand kennt ihr nächstes Kapitel, keiner weiß, was der kommende Tag, der nächste Moment bringen wird. Wie düster es um uns herum auch sein mag, welchen Schmerz und welche Leere wir auch empfinden mögen – Verzweiflung, Hoffnungs- und Sinnlosigkeit –, wenn wir einfach weitermachen, folgt auf diese dunkle Nacht ein weiterer Sonnenaufgang. Seht also der Angst ins Auge und gebt eurer Verzweiflung nicht nach. Lasst das Ego sterben, schützt aber euren Körper. Lasst zu, dass dieser »Tod« zu einer Wiedergeburt führen kann. Und so sicher, wie auf die Nacht der Tag folgt, so sicher führt der Tunnel ins hellere Licht.
Eine neue Art zu leben
»Du musst überhaupt nichts, außer endlich aufhören damit, die ganze Welt ausschließlich aus dem Blickwinkel deiner Wünsche zu sehen. Hör auf, lass los! Lass deine Gedanken los, vielleicht kommst du dann zu Verstand. Bis dahin aber musst du sehr sorgfältig auf deinen Gedanken-Müll aufpassen.«
Hier mahnte Socrates mich, auf die Wirklichkeit um mich herum zu achten, statt mir bloß den Kopf darüber zu zerbrechen. Er zog den Gedankenschleier weg, der sich vor meine unmittelbare Wahrnehmung geschoben hatte. Als sich mein Gewahrsein im Laufe der Zeit auf meine Umwelt fokussierte, fing ich an, die Temperatur der Luft auf meiner Haut zu spüren; allmählich nahm ich die Düfte wahr, die der Wind zu mir trug, sah und hörte viel mehr von der Multimediawelt, die wir unser Alltagsleben nennen.
Socrates zog mich aus meiner subjektiven Gedankenwelt heraus – aus meiner Beschäftigung mit und meiner Anhaftung an jeden vorbeiziehenden Gedanken, Impuls, jedes Gefühl – in eine geräumige Sinnenwelt. Indem ich mein kleines Selbst losließ, erwachte ich zu einem größeren Leben.
Zu Kapitel drei
Der Sprung in die Freiheit
In der Meditation auf einen Tautropfen entdeckte ich das Geheimnis des Meeres.
Kahlil Gibran
Aufmerksamkeit
Später am Vormittag ging ich zum Lauftraining auf das Edwards Field. Dort lernte ich Dwight kennen, der an der Lawrence Hall of Science, draußen in den Berkeley Hills arbeitete. Ich musste ihn zweimal nach seinem Namen fragen, weil ich beim ersten Mal nicht richtig hinhörte; ein weiteres Zeichen für meine schwache Aufmerksamkeit und meine Gedankenflucht. Nach ein paar Runden sagte Dwight irgendetwas von »klarem blauen Himmel«. Ich war so in Gedanken verloren, dass ich das schöne Wetter nicht einmal bemerkt hatte. Irgendwann ließ Dwight mich hinter sich und rannte ins offene Hügelland hinaus – er war Marathonläufer –, während ich nach Hause zurückkehrte, über meine Gedanken nachgrübelnd. Eine frustrierende Beschäftigung!
In dieser Phase meiner Ausbildung ging es Socrates darum, mir zu verdeutlichen, wie sehr meine unmittelbare Wahrnehmung der Realität durch mein Denken beeinträchtigt wurde. Ich begann zu begreifen, in welchem Maße ich von den Dingen, die sich in meinem Kopf abspielten, absorbiert wurde. Ich nahm ja kaum wahr, was um mich herum geschah. Ich bekam die Namen von Leuten nicht mit und ließ mir auch andere Details entgehen. Wenn ich nicht gerade gezwungen war, mich zu konzentrieren, weil ich durch die Luft flog oder mich um die Holmen schwingen ließ, achtete ich mehr auf meine Gedanken über die Welt als auf die Welt selbst.
Viele von uns sind bestimmt schon einmal kilometerweit auf der Autobahn gefahren und haben dann plötzlich mitbekommen, dass sie so in Gedanken versunken waren, dass sie die letzte Strecke gar nicht registriert haben. Oder haben die Ausfahrt verpasst. (Eine ziemlich beängstigende Erkenntnis, wenn man mal überlegt, wie viele abgelenkte,
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