Die Weisheit des friedvollen Kriegers
verblassten die Farben auch der buntesten Farbfilme. Das Essen schmeckte wie Zahnpasta.
(…)
Es kam so weit, dass ich wie ein Phantom durch die Uni schlich. Meine Welt war durcheinander – das Unterste zuoberst, das Innerste nach außen gekehrt. Klar, ich hatte mich angestrengt, zur alten Routine zurückzufinden, aber vergeblich. Ich hatte mich im Training verausgabt – aber auch das war sinnlos geworden.
Die Professoren redeten weiter vom Lebensgefühl der Renaissance, von den Instinkten der Ratte, von Miltons Verlorenem Paradies.
Socrates sagte einmal: »Ich nenne mich friedvollen Krieger, weil die wirklich wichtigen Schlachten im Inneren geschlagen werden.« Jetzt sah ich mich meiner eigenen inneren Schlacht gegenüber – einer Zeit von Desillusionierung, Zynismus und geistiger Lähmung. Ich hatte das Gefühl, zwischen zwei Welten festzustecken, keiner von beiden richtig zugehörig. Eigentlich wollte ich zurück, doch dafür hatte ich schon viel zu viel gesehen; andererseits fand ich aber auch keinen Weg, der mich voranbringen könnte.
Im Prozess der Reorganisation meiner Psyche erlebte ich eine leidvolle Periode tief gehender Desorientierung, einer Geisteskrankheit nicht ganz unähnlich. Diese Zeit war meine dunkle Nacht der Seele, wie solche Krisen in
einigen spirituellen Traditionen auch genannt werden. In dieser dunklen Nacht der Seele kann es ziemlich einsam sein, denn mitunter ist die Verständigung mit anderen dann sehr mühsam. Von außen sieht das Leben in solchen Zeiten vielleicht noch relativ normal oder sogar ganz vergnüglich aus, es fühlt sich aber völlig anders an.
Doch wenn wir unseren dunklen Nächten mit Gleichmut begegnen, können diese Erfahrungen zu mehr Licht und neuem Mitgefühl führen. Derartige Strapazen und Prüfungen bergen wichtige Lektionen. Ich habe zum Beispiel gelernt, dass es während des spirituellen Wachstums eine Phase gibt, in der wir uns fast obsessiv mit uns selbst beschäftigen. Das ist ganz normal: Selbstvergewisserung. Selbstbeobachtung. Selbstreflexion. Bevor wir unser Selbst transzendieren können, müssen wir es zunächst kennenlernen.
Die Konzentration auf sich selbst ist notwendig, um den Pfad der persönlichen Entwicklung erklimmen zu können – ähnlich wie man auf einer Bergwanderung mitunter auch durch einen dichten Wald muss, um sein Ziel zu erreichen. Wir wollen uns aber keinesfalls in den Schatten verlieren. Wenn die Beschäftigung mit sich selbst chronisch wird, führt sie auch zu Unzufriedenheit. Der Prozess der Selbsterkenntnis ist also notwendig und nützlich, sollte aber nach einer gewissen Zeit abgeschlossen werden.
Sobald wir durch objektive Selbstbeobachtung gelernt haben, uns realistisch zu betrachten, wird es Zeit, die Aufmerksamkeit wieder ins Außen zu richten. Der japanische Psychiater Shoma Morita drückte das einmal so aus: » Wenn du an einem Spiegel vorbeikommst, solltest du auch auf den Rahmen achten.«
Wir Menschen sind manchmal wie Kinder, die schlafen wollen und jemand schüttelt uns und schreit » Wacht auf!«. Wir neigen dazu, jeden zu verherrlichen, der uns Reichtum, Erfolg und eine Menge guter Gefühle verspricht. Wenn dann aber jemand daherkommt, der uns wirklich aufwecken will, nehmen wir es ihm mitunter so übel, dass wir nicht einmal davor zurückschrecken, ihn ans Kreuz zu nageln.
Als ich Socrates kennenlernte, führten meine Widerstände und die rigide Investition in meine Identität zu besagtem Kampf in dunkler Nacht. Eine ziemlich häufige Grenzmarkierung auf dem Pfad des Erwachens. Doch all meinen Widerständen und Ängsten zum Trotz gelang es Socrates, mich lange genug bei der Stange zu halten, um mir die Scheuklappen meines Selbstbildes und meiner Selbsttäuschung zu nehmen. Während ich diese Phase der Desillusionierung und Verzweiflung durchmachte, sah ich am anderen Ende des Tunnels eine solche Klarheit und Freiheit, dass es die ganze Tortur wert war.
Diese Tortur ist aber keineswegs unvermeidlich. Wer bereit ist, seinen Widerstand aufzugeben, kann durch Vertrauen und Akzeptanz auch ganz spontan und angenehm erwachen, auf ganz unerwartete Art und Weise. Beim Buddha führte das Sitzen unter dem Bodhibaum zu einem solchen Erwachen. Erkenntnisse und Erwachen können überall auftreten, immer, wenn wir bedingungslos das Herz öffnen. Es kann sein, dass wir in einem einzigen kurzen Moment wiedergeboren werden. Möge es so sein!
Arbeit an sich selbst, Arbeit an der Gesellschaft
Ich trottete stumpf
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