Die weiße Bestie: Thriller (German Edition)
es, als würden sich die Fragen um ein vollkommen anderes Buch drehen. Ein Buch, das Sally nicht gelesen hatte.
Sie hob den Kopf und schaute wieder auf ihre Klassenkameraden. Alle waren damit beschäftigt zu schreiben. Ihr eigener Bogen war noch immer ohne einen Strich. Sie las die erste Frage erneut: Welche Figur macht Peter im Schnee?
Makena saß neben ihr und schrieb. Sally schielte auf das Papier der Freundin.
» Wir dürfen nicht voneinander abgucken « , flüsterte Makena irritiert.
Verlegen drehte Sally den Kopf wieder weg. Es war doch nicht, weil sie schummeln wollte. Sie konnte sich heute an nichts erinnern.
Wie alt war Peter?, wollte die Lehrerin in einer der Fragen wissen. Zehn? Zwölf? Sally hatte es vergessen. Es musste irgendwo im Buch gestanden haben, aber gerade jetzt war es, als ob sie sich an überhaupt nichts erinnern konnte.
Sie erinnerte sich nur daran, dass sie auf die Sommerschule gehen würde, wenn sie diese Prüfung hier– und all die anderen Prüfungen– gut hinbekäme.
» Ihr habt noch eine halbe Stunde Zeit. « Die Lehrerin sah sich in der Klasse um und ließ einen Moment einen besorgten Blick auf Sallys Gesicht ruhen.
Sally schaute nach unten auf das Blatt. Vielleicht hatte die Lehrerin bemerkt, dass sie noch nichts geschrieben hatte.
Sie zwang sich dazu, die Fragen noch einmal zu lesen. Es musste etwas geben, an das sie sich erinnern konnte!
Das Gefühl, es wäre besser, tot zu sein, war zurückgekehrt. Es war seit Sonnabend da gewesen, seit sie mit dem Kopf auf der Erde aufgeschlagen war und eine Beule unter den Zöpfen bekommen hatte. Seit sie die unheimliche Stimme des Mannes gehört hatte.
Sie hob ihre Hand nach oben an den Hinterkopf und spürte die Beule.
» Jetzt ist eine Stunde vergangen. Alle legen ihre Bleistifte weg. « Die Lehrerin schaute sich in der Klasse um.
Sally hatte ihren bereits hingelegt. Sie starrte durch das Fensterloch nach draußen, hinauf in den grauen Himmel. Sie hätte auf viel mehr Fragen antworten müssen, wenn sie ein A bekommen wollte. Da war sie sich sicher. Onkel Julius würde sie jetzt nicht auf die Sommerschule schicken.
In ihren Augenwinkeln sammelten sich die Tränen. Sie hasste sich selbst.
45
Caroline wachte voll bekleidet auf. Ihre Zunge fühlte sich rau wie Sandpapier an, und ihr Kopf schmerzte. Ihr Magen knurrte, da er seit mehr als einem Tag nichts mehr zu essen bekommen hatte.
Sie stützte sich auf einen Ellenbogen auf. Draußen war es dunkel. Sie griff nach der silberfarbenen Rolex, die auf dem Nachttisch lag. Es war fast Mitternacht und bald acht Stunden her, seit sie sich hingelegt hatte, um ein Nachmittagsnickerchen zu halten. Im Kühlschrank befanden sich nur leere, saubere Fächer, weil sie den gesamten Inhalt weggeworfen hatte, bevor sie nach Kenia geflogen war. Sie lag einen Augenblick lang da und überlegte, etwas zu bestellen, vermochte es aber nicht, das Handy einzuschalten und auf die Mitteilungen zu reagieren, die sich vielleicht auf dem Anrufbeantworter befanden. Sie hatte noch keine Kraft für die Welt da draußen.
Markvart hatte am Morgen angerufen und ihr Bescheid gegeben. Vorsichtig– als würde er Angst davor haben, sie würde daran zerbrechen, es zu hören. Sie hatte nicht reagiert. Hatte nur geantwortet » aha « . War nicht traurig darüber gewesen. Oder erleichtert. Hatte sich auch nicht schuldig gefühlt. Nur leer.
Sie starrte an die weiße Decke. Der Chef hatte gefragt, ob sie Gesellschaft haben wollte. Er würde gern zu ihr nach Hause kommen, wenn sie das Bedürfnis hatte, mit jemandem zu sprechen. Oder sie könnten sich in einem Café treffen, wenn sie ein wenig rauskommen wolle. Caroline hatte abgelehnt. Das Einzige, was sie brauchte, war Schlaf. Einen tiefen, traumlosen Schlaf, in dem sie nicht zu etwas Stellung nehmen und sich nicht dafür entscheiden musste, wie es ihr ging. Oder was jetzt passieren sollte.
Sie war gestern Morgen in Kastrup gelandet. Es war geplant gewesen, dass sie direkt vom Flughafen ins Büro fahren sollte, aber eine unüberwindliche Müdigkeit hatte sie übermannt, als sie durch die mattierte Glastür der Ankunftshalle getreten war und die vielen Menschen gesehen hatte, die mit Fahnen in der Hand und Erwartungen in den Gesichtern auf Familienmitglieder warteten. Also hatte sie den Taxifahrer gebeten, sie nach Landemærket zu fahren, und hatte Markvart eine Nachricht geschrieben, dass sie nicht zur Arbeit kommen würde.
Markvart hatte nicht geantwortet, und sie hatte
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