Die weiße Garde
Lissowitsch war, sondern Wassilissa. Das heißt, er selbst nannte sich Lissowitsch, und viele, mit denen er zu tun hatte, nannten ihn Wassili Iwanowitsch, aber nur ins Gesicht. Hinter seinem Rücken, in der dritten Person, wurde der Ingenieur nur Wassilissa genannt. Das kam daher, daß der Hausbesitzer seit Januar 1918, als in der Stadt unbestreitbar schon Wunder geschahen, seine deutliche Schrift verändert hatte und statt des bestimmten »W. Lissowitsch« aus Angst vor künftiger Verantwortung in Fragebögen, Bescheinigungen, Ausweisen, Ordern und auf Karten nur noch »Was. Lis.« schrieb.
Nachdem Nikolka am achtzehnten Januar achtzehn aus Wassili Iwanowitschs Händen die Zuckerkarte empfangen hatte, bekam er statt Zucker auf dem Krestschatik mit schrecklicher Wucht einen Stein ins Kreuz und spuckte zwei Tage Blut. (Eine Artilleriegranate war direkt über der Zuckerschlange detoniert, die aus furchtlosen Menschen bestand.) Zu Hause angekommen, hielt sich Nikolka, grün im Gesicht, an der Wand fest, preßte aber doch ein Lächeln heraus, um Jelena nicht zu erschrecken. Er spuckte die Schüssel voll Blutflecke und antwortete auf Jelenas Schrei »O Gott! Was ist passiert?«:
»Das ist Wassilissas Zucker, daß ihn der Teufel hole!« Dann wurde er leichenblaß und kippte zur Seite. Nach zwei Tagen stand er wieder auf, Wassili Iwanowitsch Lissowitsch aber existierte nicht mehr. Zuerst im Hof des Hauses Nummer dreizehn und dann in der ganzen Stadt nannte man den Ingenieur nur noch Wassilissa, und allein der Träger dieses Frauennamens stellte sich noch mit »Lissowitsch, Vorsitzender des Hauskomitees« vor.
Nachdem Wassilissa sich überzeugt hatte, daß die Straße vollkommen ruhig geworden, daß auch kein gelegentliches Knirschen von Schlittenkufen mehr zu hören war, horchte er aufmerksam auf das Pfeifen aus dem Schlafzimmer seiner Frau, ging in den Korridor, befühlte Schlösser, Riegel, Kette und Haken und kehrte in sein Arbeitszimmer zurück. Der Schublade seines massiven Schreibtisches entnahm er vier blanke Sicherheitsnadeln. Dann ging er auf Zehenspitzen irgendwohin in die Dunkelheit und brachte ein Laken und ein Plaid. Noch einmal horchte er, legte sogar den Finger auf die Lippen. Dann zog er die Jacke aus, krempelte die Ärmel hoch, holte vom Regal ein Glas Kleister, ein sorgfältig zusammengerolltes Stück Tapete und eine Schere. Nun trat er dicht ans Fenster, beschirmte die Augen mit beiden Händen und blickte aufmerksam auf die Straße. Vor das linke Fenster hängte er bis zu halber Höhe das Laken und vor das rechte mit Hilfe der Sicherheitsnadeln das Plaid. Sorgfältig zupfte er alles zurecht, damit keine Ritzen frei blieben. Dann stieg er auf einen Stuhl, suchte tastend über der oberen Bücherreihe, ritzte mit seinem Taschenmesser die Tapete zuerst vertikal und dann rechtwinklig zur Seite, schob das Messer unter den Schnitt und legte ein akkurates, zwei Backsteine großes Geheimfach frei, das er in der vergangenen Nacht selbst gebaut hatte. Das Türchen – eine dünne Zinkplatte – drückte er zur Seite, stieg herunter, sah sich ängstlich um, befühlte das Laken. In der unteren Schublade, die er mit zweifach klirrender Schlüsseldrehung öffnete, zeigte sich ein sorgfältig in Zeitungspapier verpacktes, kreuzweise verschnürtes und versiegeltes Päckchen. Dieses steckte Wassilissa in das Geheimfach und schloß die Tür zu. Lange schnitt er auf dem roten Tuch seines Tisches Streifen zu, bis er sie so hatte, wie er sie brauchte. Mit Kleister eingestrichen, legten sie sich so fein auf die Schnittstelle, daß es eine Freude war: ein halbes Sträußchen des Musters ans andere, ein Quadrat ans andere. Der Ingenieur stieg vom Stuhl und überzeugte sich, daß an der Wand keine Spuren des Geheimfaches zu sehen waren. Zufrieden rieb er sich die Hände, zerknüllte und verbrannte die Tapetenreste, verrührte die Asche und versteckte den Kleister.
Auf der schwarzen, menschenleeren Straße kletterte eine zerlumpte graue Wolfsgestalt vom Ast einer Akazie herunter, auf dem sie frierend eine halbe Stunde gesessen hatte, gierig die Arbeit des Ingenieurs durch den Spalt über dem Laken beobachtend. Gerade mit diesem Laken vor dem grünbeleuchteten Fenster hatte der Ingenieur das Unglück heraufbeschworen. Elastisch sprang die Gestalt in den Schnee und ging die Straße hinauf, etwas weiter tauchte sie mit ihrem Wolfsgang in den Gassen unter, und der Schneesturm, die Dunkelheit und die Schneewehen verschlangen sie und
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