Die weiße Hexe
ein.
Die hübsche Cilly lief schwanzwedelnd auf mich zu; ich freute mich, sie wohlbehalten wiederzuhaben.
„Die Mädchen wollten sie gar nicht mehr hergeben“, rief Mammy Ama lachend.
„Mammy“, sagte ich, „eine Frage habe ich noch: Wußtest du, daß ich nicht schwimmen kann?“
„Wußte ich's?“ Ihre Augen sahen mich schelmisch an. „Das sah aber ganz anders aus. Du bist doch geschwommen wie ... eine Nixe!“ Sie lachte herzhaft.
Vier Tage waren seit meiner Abreise aus Lagos vergangen. Ich war jetzt bereit, nach Hause zu fliegen, um Weihnachten mit meiner Familie zu feiern. Mein Flug ging in zwei Tagen.
Mammy Ama hatte mich gebeten, die Hauptstraße nach Lagos wegen ihrer Unfallträchtigkeit zu meiden. Ich hielt mich daran -
und verfuhr mich prompt. Statt Richtung Westen fuhr ich direkt auf die Mangrovensümpfe zu, geriet immer tiefer ins Sumpfland, verlor jede Orientierung. Da entdeckte ich eine Straße, die mir bekannt vorkam, und gab Gas. Die gesamte Umgebung kam mir vertraut vor
- natürlich, in der Nähe befanden sich das Heimatdorf Victors und Sunnys Palast!
Ich hatte Sunnys Dorf unbehelligt passiert, als sich das Land öffnete. Für ein paar Kilometer wich die dichte Vegetation zurück.
Ich stoppte den Wagen in einer menschenleeren Gegend, weil sich Cilly bemerkbar machte - sie brauchte Auslauf. Ich schloß den Wagen ab und lief mit Cilly los.
Wir waren noch nicht weit gekommen, als ich einen Vogel ausmachte, der mit schnellem Flügelschlag über den Boden dahinflog und dann niederging. Cilly wurde unruhig, sie wollte dorthin laufen. Ich kniete mich neben sie und hielt sie am Halsband fest. Das hier war nicht ihr Jagdrevier. Ein Reiter sprengte über das abgeerntete Feld, in dem der Vogel niedergegangen war. Der Mann stieg ab, als er den Vogel erreichte. Er bückte sich nach etwas, das ich nicht sehen konnte, richtete sich wieder auf und bestieg das Pferd. Er ritt etwa hundert Meter, hielt das Pferd an, streckte den Arm aus und wartete. Nun stieg der Vogel wieder vom Boden hoch und setzte sich auf den ausgestreckten Arm des Mannes. Ein Falkner!
Ich machte mich noch kleiner, beruhigte Cilly und wartete, bis der Reiter verschwunden war. Dann liefen wir rasch zum Wagen zurück.
Mein Traum mit dem Urzeitvogel, der Victor verschleppt hatte! Ein Mann hatte auf einem Pferd gesessen, den Arm ausgestreckt. Nach meiner Interpretation hatte er mir hochhelfen wollen. Nun wußte ich es besser: Er bot dem Falken seinen Arm als Landeplatz!
Jenem Falken, der auf dem staubigen Poloplatz Victors Pferd angefallen hatte.
DIE WEISSE HEXE
Mila hatte versprochen, mich zum Flughafen zu begleiten. Wir luden mein Gepäck in und auf Abiolas aus Deutschland mitgebrachten, alten Mercedes, der schwer in den Achsen hing. Drei Jahre Nigeria, da war eine Menge Kram zusammengekommen!
Zum ersten Mal war ich überpünktlich am Flughafen. Vier Stunden zu früh, aber wenigstens konnte ich so der Zollkontrolle gelassen entgegensehen. Am Schalter legte ich dem Lufthansa-Bodensteward mein Rückflugticket vor. Ich atmete auf. Sunny hatte mich also nicht aufgehalten, mir keine Steine mehr in den Weg gelegt, mir nicht nach dem Leben getrachtet. Milas Orakel hatte unrecht. Ich war dem Leoparden entkommen!
„Darf ich Ihren Reisepaß sehen?“ fragte der Steward.
Ich durchsuchte meine Handtasche. Während ich überall nachsah, merkte ich, wie mir der Schweiß ausbrach. Ich spürte den Kloß im Hals, meine Hände zitterten. Es hatte keinen Sinn weiterzusuchen.
Der Paß war nicht da. Ich sah mich selbst, wie ich das Dokument zusammen mit Victors Wertsachen in seinen Safe gelegt und sorgsam das Zahlenschloß verstellt hatte. Ich mußte zurück in dieses Haus! Was, wenn Sunny dort war? Aber mir blieb keine andere Wahl. Ohne Paß konnte ich nicht ausreisen.
Abiola hatte den Mercedes längst entladen, das Gepäck stapelte sich in der Halle. Mila übernahm das Kommando: „Abiola, du bleibst hier und sorgst dafür, daß das Gepäck eingecheckt wird.
Komm, Ilona, wir fahren zu Victors Haus.“
Es war nur ein Versuch, mehr nicht. In drei Stunden nach Ikoyi und zurück, das war kaum zu schaffen. Normalerweise brauchte ich für eine Strecke anderthalb Stunden, wenn kein Stau dazwischenkam. Ich bin eine defensive Fahrerin, gehe nie ein Risiko ein. Aber dieses eine Mal fuhr ich, als stünde mein Leben auf dem Spiel. Und irgendwie ging es ja auch um mein Leben! Die Sicht war schlecht, ein Sandsturm, der um die Jahreswende gefürchtete
Weitere Kostenlose Bücher