Die weiße Mafia: Wie Ärzte und die Pharmaindustrie unsere Gesundheit aufs Spiel setzen (German Edition)
Vitamin D nannte. Für diese Forschungen gab es Nobelpreise unter anderem deshalb, weil in der Zeit im und nach dem Ersten Weltkrieg die Ernährungssituation in Europa zum Teil erbärmlich war. Wie schon angedeutet, waren entsprechende Mangelkrankheiten weit verbreitet. Vitamine waren offenbar Substanzen, die der Körper nicht selbst herstellen konnte, die für sein gesundes Funktionieren aber unerlässlich waren. Deshalb kümmerte sich die Forschung nun verstärkt um die chemische Analyse und die Entwicklung einer Technik zur künstlichen Synthese von Vitaminen. In Deutschland war man besonders aktiv. Hier kursierte schließlich die Vorstellung, der Erste Weltkrieg sei letztlich wegen Vitaminmangels verloren gegangen.
Vitamin C: am Anfang ein Ladenhüter
1934 erwarb die Schweizer Pharmafirma Hoffmann La Roche das brandneue Patent zur Herstellung von synthetischem Vitamin C. Allerdings erwies sich das weiße Pulver als Ladenhüter. Von Vitaminmangel war schon lange keine Rede mehr. Wie sollte man den Leuten also die Extraportion Vitamin C verkaufen? Die Marketingabteilung des Pharmaunternehmens landete in dieser trüben Situation tatsächlich einen PR-technischen Geniestreich. Um über dieses spannende Kapitel der Vitamingeschichte zu sprechen, besuchte ich den Pharmaziehistoriker Dr. Heiko Stoff an der Universität Braunschweig. Er erklärte mir die Strategie, auf die der Vitaminhersteller setzte: »Es gibt da offensichtlich Stoffe, die der Körper braucht. Damit er gesund ist, damit er funktioniert. Aber vielleicht können sie noch mehr. Sie können ihn vielleicht noch leistungsfähiger, noch optimaler, noch besser funktionierend machen. Und das war natürlich höchst interessant für eine Industrie, die diesen Stoff herstellen kann.«
Heute sind wir durch Werbung mit diesem Gedanken geradezu imprägniert: Vorbeugung bzw. Leistungssteigerung durch Nahrungsmittel, Nahrungsergänzungsmittel oder »die richtige Ernährung«. Das kommt uns heute nicht spektakulär vor. Aber damals war das neu. Bis dahin war das Einnehmen spezieller Substanzen nur dazu da gewesen, um Krankheiten zu behandeln. Um gesund zu werden. Wenn man gesund war, nahm man nichts. Man war ja gesund. Warum sollte man da Medikamente einnehmen? Dieses geradezu geschäftsschädigende, weil konsumfeindliche Denkmuster bei den Kunden durchbrochen zu haben ist die »historische Leistung« der Marketingabteilung von Hoffmann La Roche. Genial: Medikamente konnte man nur an Kranke verkaufen. Vitamine dagegen an alle. Für mehr Gesundheit. Zur Vorsorge. Zur Leistungssteigerung. Zum Schutz gegen nachlassende Leistung. Mit diesem Versprechen ließ sich Kasse machen.
»Drittes Reich«: Vitaminisierung des Volkskörpers
Die Ersten, die sich im großen Stil für diese Idee begeistern konnten, sagt Pharmaziehistoriker Heiko Stoff, waren die Nationalsozialisten:
»Wenn wir den Krieg führen wollten, dann muss klargestellt sein, dass unsere Ernährungslage gesichert ist. Das ist das berühmte Thema der Autarkie. Wie wird die Ernährungsgrundlage gesichert von den Soldaten an der Front. Da waren Vitamine von zentraler Bedeutung. Auch weil sie schon sehr früh sinnbildlich für etwas sehr Leistungsstarkes standen. Der Leistungsbegriff, der auch ganz zentral für den Nationalsozialismus war, der materialisiert sich sozusagen in den Vitaminen.«
Die Soldaten bekamen sogenannte V-Drops mit an die Front. Noch 1944 bestellten die Militärs 200 Tonnen Vitamin C bei Hoffmann La Roche. Die Firma wurde als kriegswichtig eingestuft, ähnlich wie Betriebe der Rüstungsindustrie. In der Reichsvitaminanstalt arbeitete man an Konzepten zur »Vitaminisierung des Volkskörpers«. Das Debakel des Ersten Weltkriegs sollte sich schließlich nicht wiederholen. Das tat es auch nicht. Es kam viel schlimmer.
Aus der Marketingabteilung des Vitaminherstellers kam auch die Idee, die Werbekampagnen mit einem wissenschaftlichen Argument anzureichern: Vitamin C wirkt antioxidativ. Es unterbindet die Reaktion mit Sauerstoff, indem es sich selbst an die Sauerstoffatome bindet. Vitamin C ist quasi ein Rostschutzmittel im Körper. ›Wozu um Himmels willen‹ – mögen Sie denken – ›braucht mein Körper einen Rostschutz?‹ Tatsächlich entstehen in jeder Zelle des Körpers bei Stoffwechselvorgängen ständig freie Sauerstoffmoleküle, die »Freien Radikale«. Sie sind extrem reaktionsfreudig, gehen gerne mit allen möglichen Molekülen Bindungen ein und können so Schaden anrichten.
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