Die weiße Mafia: Wie Ärzte und die Pharmaindustrie unsere Gesundheit aufs Spiel setzen (German Edition)
Krankenkassen ein.
Ein letztes Mal der Blick hoch in den Norden Europas. Die norwegischen Gynäkologen stellen ihren Kundinnen das Rezept für die Antibabypille für einen Zeitraum von zwei Jahren aus. In Deutschland müssen die Frauen viermal im Jahr bei ihren Gynäkologen antreten, um ein Rezept abzuholen. Eine medizinisch durch nichts zu begründende Maßnahme. Aber sie bringt vier Arztkontakte pro Jahr. Die Frauen werden schon ab ihrer Jugend darauf konditioniert, dass es normal ist, regelmäßig zum Frauenarzt zu gehen. Und etwas Kleingeld dafür bleibt auch in der Praxis.
Überdiagnose und Überbehandlung
Und noch ein Blick über den großen Teich: In den USA gehören Überdiagnose und Überbehandlung zu den Topthemen, die in großen Zeitungen diskutiert werden. Im englischen Wikipedia sind die Wörter overutilization und overdiagnosis Einfallstore in breit angelegte Diskussionen über dieses Thema. Dort finden sich zahlreiche Studien und Schätzungen. So zum Beispiel, dass in Amerika 30 Prozent der medizinischen Prozeduren und Medikationen überflüssig sind. Das deutsche Wikipedia kennt die Stichworte »Überbehandlung« oder »Überdiagnose« gar nicht. Das zeigt, wie wenig dieses Problem hier bisher wahrgenommen wird.
Wir sind immer noch bei den irrsinnigen 18 Arztkontakten pro Jahr in Deutschland. Am Beispiel der Gynäkologie haben wir gesehen, wie man seine »Kundschaft« bei der Stange hält. Allein hier könnten wir für viele Frauen drei »Regeltermine« pro Jahr einfach streichen. Aber schon beim Hausarzt werden zahlreiche überflüssige Arztkontakte erzeugt – weil die Fachgesellschaften Normwerte definieren, die buchstäblich Millionen Gesunde zu Kranken machen.
Der beliebteste Hebel sind hier die Blutwerte: Blutdruck, Blutzucker, Blutfett. Über Letzteres, das Cholesterin, haben wir schon in einem eigenen Kapitel verhandelt. 2,5 Millionen gesunde Deutsche müssen hier angeblich medikamentös eingestellt werden. Natürlich muss der Cholesterinspiegel auch regelmäßig vom Arzt überprüft werden.
Und wie praktisch: Die Cholesterinsenker haben Nebenwirkungen. Sie verursachen häufig Muskelschmerzen. Außerdem können Statine zu Funktionsstörungen der Leber und der Nieren führen. Viele Ärzte kennen diese Nebenwirkung der Statine nicht und kommen daher nicht auf die Idee, diese bei ansonsten Gesunden überflüssigen Cholesterinsenker einfach abzusetzen. So ließen sich die neu hinzugekommenen Beschwerden ihrer Patienten einfach und ursächlich beseitigen. Die Nebenwirkungen der Statine führen zu weiteren medizinischen Untersuchungen und Behandlungen. Arztkontakte verursachen Arztkontakte. Wenn wir sehen, dass sich die Norweger mit einem Viertel der Arztkontakte zufriedengeben und dennoch länger leben als die Deutschen, bekommen wir einen Eindruck davon, wie irrsinnig unsere medizinische Kultur heiß gelaufen ist. Unser Gesundheitssystem produziert Kranke am laufenden Band. Ein aus dem Ruder gelaufenes medizinisches Perpetuum mobile.
Nonsenskrankheit milder Bluthochdruck
Noch so ein Blutwert, der sich trefflich eignet, Kranke zu generieren: der sogenannte milde Bluthochdruck. Im August 2012 veröffentlicht die Cochrane-Gesellschaft online eine Metastudie zu diesem Thema. Milder Hochdruck bedeutet Werte zwischen 140 und 159 mmHg systolisch und/oder 90 bis 99 mmHg diastolisch. Die Wissenschaftler des industrieunabhängigen Cochrane-Netzwerkes durchforsteten die medizinischen Datenbanken der letzten 60 Jahre nach sauber durchgeführten Studien, in denen diese »Patienten« mit »mildem Bluthochdruck« in zwei Gruppen aufgeteilt wurden. Die eine Gruppe erhielt einen Blutdrucksenker, die andere Gruppe ein Placebo oder keine Medikamente. Die Forscher fanden nur elf Studien, die die strengen Kriterien erfüllten. Immerhin waren daran insgesamt fast 9000 Studienteilnehmer beteiligt. Die Studien liefen mindestens vier Jahre. Zielkriterien waren die Gesamtmortalität und Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Schlaganfall oder Herzinfarkt. 78
Und was war das Ergebnis? Die Wissenschaftler erklärten, mit diesen besten verfügbaren Studien ließen sich keine Vorteile durch eine medikamentöse Senkung des milden Bluthochdrucks nachweisen. Außerdem wiesen sie darauf hin, dass neun Prozent der Studienteilnehmer die Behandlung wegen gravierender Nebenwirkungen der Blutdrucksenker abgebrochen haben. Genau wie die Cholesterinsenker haben nämlich auch die Blutdrucksenker unerwünschte Einflüsse auf den Körper
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