Die weiße Mafia: Wie Ärzte und die Pharmaindustrie unsere Gesundheit aufs Spiel setzen (German Edition)
einer behandlungsbedürftigen Krankheit.
In Deutschland gibt es interessanterweise kaum Zahlen zur Überweisungsquote der Hausärzte zu den Fachärzten, doch eine Studie aus Baden-Württemberg ergibt: Von 100 Besuchern einer Hausarztpraxis werden 56 zu einem Facharzt überwiesen. 74 Hier belegen wir in Europa den Spitzenplatz. 75 Dabei wird betont, dass die Patienten häufig selbst auf diese Überweisung drängen. Jemand, der – wie Harald Kamps – viele Jahre in einer ganz anderen medizinischen Kultur verbracht hat, erlebt diesen Drang zur Behandlung als geradezu hysterisch: »Deutsche Menschen als Patienten sind dazu ermahnt, hinter jedem Symptom eine Krankheit zu vermuten. Und mit dieser Angst dann auch zum Arzt zu gehen. Und dieses Konzept, dass eigentlich Krankheiten behandelt werden und nicht Personen, ist das, was den Heimkehrer nach Deutschland eigentlich am meisten verstört.«
Wir Deutschen haben – so scheint es – einen besonderen Hang zur medizinischen Behandlung. Wir begeben uns in der Regel ohne triftigen Grund in Gefahr: 18 Arztkontakte pro Jahr! Das ist Hysterie. Das verursacht immense unnötige Kosten und hat unter anderem die Folge, dass Ärzte gar keine Zeit für uns haben können. Die Wartezimmer sind vielfach mit Gesunden verstopft, bei denen der Hausarzt Schwierigkeiten hat, etwas Pathologisches zu finden. Folglich überweist er zum Facharzt. Spätestens hier wird es gefährlich, denn der Facharzt verfügt über raffiniertere Methoden der medizinischen Diagnostik. Vor allem die teuren Apparate für bildgebende Verfahren zeigen sehr schnell »Abweichungen von der Norm«. Das muss so sein, anders lassen sich die Anschaffungskosten für diese Apparate ja auch nicht refinanzieren. Diese Abweichungen von der Norm scheinen nahezulegen: »Da hat sich die Bildgebung doch gelohnt.« Abweichungen von der Norm geben argumentative Schützenhilfe, um die Besucher der Praxis zu Kranken zu machen und ihnen aufwendige Behandlungen aufzuschwatzen.
Vorsicht: Überweisung
Wie unsinnig dieses Verfahren, wie heillos diese Fixierung auf Normen ist, zeigt ein Blick auf die entfesselte Wirbelsäulenchirurgie. In Computertomografien von Personen ohne Rückenbeschwerden erkennen Fachleute in 50 bis 80 Prozent der Fälle Abweichungen von der Norm, die sie als behandlungsbedürftig erachten. Ein vergleichbares Ergebnis liefert im Frühjahr 2012 die Auswertung einer Studie der Techniker Krankenkasse. Die Versicherten, die von ihren Orthopäden die Empfehlung für eine Wirbelsäulenoperation bekommen hatten, konnten von unabhängigen (wirtschaftlich nicht involvierten) Fachleuten eine Zweitmeinung einholen. In 85 Prozent der Fälle – so urteilten die unabhängigen Fachleute – war eine Operation nicht nötig. 76 Wenn dieses Ergebnis repräsentativ ist, sind mehr als acht von zehn Wirbelsäulenoperationen reine Geldschneiderei. Da sind sie wieder, die geschäftstüchtigen Orthopäden. Aber wir schweifen ab. Wir wollten doch der Arztsucht der Deutschen nachspüren.
18 Mal pro Jahr! Sind wir Arztjunkies? Provozieren wir nicht selbst durch unsere Aufdringlichkeit die Mediziner zur Überbehandlung? Führen wir sie nicht regelrecht in Versuchung, indem wir freiwillig in ihre Mühle springen?
Nein! Ärzte haben die Aufgabe, uns zu unserem Besten zu beraten und zu behandeln. Nicht zu ihrem Besten. Dazu gehört auch, dass sie sich die Zeit nehmen, uns zu beruhigen und uns als Partner im verantwortungsvollen Umgang mit unserer Gesundheit zu coachen. Nicht immer gleich die Verantwortung mit dem Überweisungsformular an den nächsten Facharzt weiterzuschieben. Das Beispiel aus Norwegen zeigt es: Neun von zehn Gesundheitsbedenken können auf dem »kleinen Dienstweg« zwischen Patient und Hausarzt geklärt werden. Alles andere ist eine Verschwendung von Geld, Grips und Ressourcen. Außerdem spielt die Medizinhörigkeit der Deutschen der weißen Mafia in die Hände. Sich willfährig der medizinischen Überbehandlung auszusetzen zeugt von einem fahrlässigen Umgang mit der eigenen Gesundheit.
Sie sagen jetzt vielleicht: »Ja, aber wenn eben doch mal was Ernstes dabei ist, das dann zu spät entdeckt wird.« So wie wir es im Moment in Deutschland handhaben, ist ganz sicher das Gegenteil der Fall: Diese Übervorsichtigkeit bei uns führt im weiteren Parcours durch den auf Wertschöpfung gepolten Medizinbetrieb zu einer Vielzahl von überflüssigen Diagnosen und Behandlungen, die den Patienten mehr schaden als die eventuell beim
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