Die Weiße Ordnung
wärmeren Sommer im Flachland bereiteten den Schäfern und Herdenbesitzern zunehmend Schwierigkeiten und so zogen sie hinauf zu den grünen Weiden der Hochländer. Das Dach der Welt war für längere Zeit im Jahr leichter zu erreichen und die Bewachung nicht mehr so scharf. Verstehst du jetzt?«
»Wenn Ihr es so erklärt, Meister Tellis, wird es mir klar, aber im Geschichtsbuch steht es anders.« Cerryl runzelte die Stirn, als er bemerkte, dass seine Buchstaben breiter wurden. Er wischte die Feder ab und holte das Taschenmesser heraus, um die Spitze zuzuschneiden.
»Das Geschichtsbuch wurde für Menschen geschrieben, die denken, und nicht für jene, die jedes Wort erklärt haben wollen.«
Tellis’ Stimme klang zwar mild, aber Cerryl zuckte trotzdem zusammen. Vermutlich hatte er den Tadel verdient. Er probierte die abgeschnittene Spitze auf dem Palimpsest und nickte zufrieden über die Breite der Buchstaben.
»Deine Gedanken hinken deinen Lebensjahren hinterher, aber im Herzen bist du viel älter«, fuhr Tellis fort. »Für dein Herz kann ich wenig tun, aber um Dylerts willen werde ich dich zum Denken zwingen. Hast du noch eine Frage – eine bessere?«
Cerryl antwortete nicht sofort, erst musste er noch ein Gähnen unterdrücken.
»Ganz gleich wie müde du auch bist, Cerryl, du musst immer einen klaren Kopf behalten.« Und nach einem kurzen Augenblick fügte der Schreiber hinzu: »Besonders in Fairhaven.«
Cerryl sah auf seine Arbeit, er suchte krampfhaft nach einer Frage, einer guten Frage. Schließlich sagte er: »Nirgendwo steht, warum die Schwarzen Magier die Winde kontrollieren können. Die Weißen Magier können Feuer erzeugen und ich weiß, dass jedes Feuer auch einen Luftzug erzeugt, aber …« Er beendete die Frage nicht.
»Die Frage ist schon besser«, sagte Tellis.
Cerryl hatte es inständig gehofft. Er hielt sich die freie Hand vor den Mund. War es der beißende Geruch, den das Schreibbrett ausströmte, das er auf die abgenutzte Tischplatte gelegt hatte? Oder einfach seine Müdigkeit?
»Die großen Winde werden, wie uns beigebracht wurde, an den kalten Orten der Welt geboren: über dem Dach der Welt und im hohen Norden. Zumindest scheint es so, dass die großen Winde von dort kommen. Die Schwarzen Magier sind, genau wie ihre Vorfahren, die Schwarzen Engel, Geschöpfe der Kälte und stehen daher der Kälte und den Winden näher, während die Weißen Magier aus der Wärme der Sonne entsprungen und Herr über Flammen und Wohlstand sind.« Tellis nickte zufrieden über seine Erklärung.
»Aber zum Schmieden von Eisen ist Feuer notwendig und Weiße Magier können die Berührung von Eisen nicht ertragen«, erwiderte Cerryl.
»Wenn du kaltes Eisen berührst, wirst du fühlen, wie es jegliche Hitze aus dir saugt.« Tellis lächelte. »Erinnere dich immer daran: Nichts ist so, wie es scheint, und obwohl ich mein Bestes gebe, dich anzuweisen, gibt es immer noch Dinge, die auch ein Meisterschreiber nicht weiß, selbst ein Meisterschreiber, der solch eine Erziehung wie ich genießen durfte.«
Cerryl hielt sich noch einmal die Hand vor den Mund und wünschte, er müsste nicht so viel gähnen.
»Gut, dass wir fast fertig sind für heute.« Tellis warf einen Blick auf Cerryl und schüttelte den Kopf. »Geh nur. Ein kurzes Nickerchen wird dir gut tun. Beryal oder Benthann werden an deine Tür klopfen. Kein Lesen – ein Nickerchen, Abendessen und dann eine Nacht lang tief schlummern. Morgen bin ich im Turm, sie brauchen einen Kopisten. Und du beeilst dich mit dem Kräuterbuch. Nivor hat gestern schon danach gefragt.«
»Ja, Ser.« Cerryl nickte höflich. Das Kräuterbuch war zwar nicht wirklich langweilig, aber Cerryl fand es nicht annähernd so interessant wie das Geschichtsbuch, in dem er von Zeit zu Zeit las, um Tellis’ Fragen beantworten zu können.
»Hinaus mit dir.«
Cerryl schlug das Kräuterbuch zu, säuberte die Feder und drückte den Stöpsel aufs Tintenfass. Anschließend wusch er sich die Hände. Tellis blickte nicht auf von der Arbeit an den Farben der Weiße.
»Das Abendessen ist bald fertig«, rief Beryal in der Küche, als Cerryl hindurchging zum Hauptraum und hinaus in den Hof.
»Danke, Beryal.« Er wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn, während er für einen Augenblick in der kühlen Brise stehen blieb; der Wind trug den Geruch von nasser Wolle aus der Gasse herein.
Cerryl machte einen Schritt nach vorn, dann noch einen, er blieb stehen und sah sich um. Er warf einen Blick
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