Die Weiße Rose
des mir völlig unbekannten Hans Scholl – wie sollte ich ihm in dieser allzu kurz bemessenen Frist seelsorgerlich nahekommen, daß ich ihn und seine Schwester richtig zu diesem furchtbaren Ende bereitete? Welches Schriftwort mochte gerade ihr Herz in dieser Lage am besten ergreifen und festigen für ihren letzten Gang? Aber Hans Scholl enthob mich aller Zweifel und Sorge. Nach kurzem Gruß und festem Händedruck bat er mich, ihm zwei Bibelabschnitte vorzulesen: das »Hohe Lied der Liebe« aus I. Korinther, Kapitel 13 und den 90 . Psalm: »Herr Gott, du bist unsere Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder Menschenkinder! Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache …«
Ich las zunächst mit Hans laut dieses »Gebet Moses’, des Mannes Gottes«, wie die Überschrift des 90 . Psalms in der Lutherbibel lautet, mit dem abschließenden Flehen: »Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden. Herr, kehre dich doch wieder zu uns und sei deinen Knechten gnädig … Erfreue uns nun wieder, nachdem du uns so lange plagest, nachdem wir so lange Unglück leiden …«
Das betete Hans Scholl nicht nur für sich, sondern für sein geplagtes, unglückliches Volk.
Den andern gewünschten Bibelabschnitt aus dem ersten Korintherbrief legte ich meiner Beicht- und Abendmahlsvermahnung zugrunde, denn beide Geschwister begehrten – wie es vor allen Hinrichtungen üblich ist – den Empfang des Altarsakraments. Ich ging davon aus, daß sich jetzt das Wort des Heilandes erfülle:
»Niemand hat größere Liebe denn die, daß er sein Leben läßt für seine Freunde.« Auch der ihnen bevorstehende Tod sei, so sagte ich, ein Lebenlassen für die Freunde, ein Opfertod fürs Vaterland genau so wie der an der Front, nur daß durch ihn viele gewarnt werden sollen vor weiterem wahnwitzigen Blutvergießen. Einer aber habe für die ganze Menschheit wie ein Verbrecher den schmählichen Tod am Kreuzesgalgen erlitten. ER sei auch für uns gestorben und habe durch seinen Opfertod uns den Eingang zum ewigen Leben geöffnet, so daß uns »kein Tod töten« kann … Die Liebe und Gnade Christi aber verlange und ermögliche es auch, daß wir selbst unsere Feinde lieben und unseren ungerechten Richtern verzeihen können. Von dieser geradezu übermenschlich anmutenden Liebe rede der Apostel im 13 . Kapitel des I. Korintherbriefes, das seinen Hymnus mit den Worten beginnt: »Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz und eine klingende Schelle …« Und so beteten wir miteinander Vers für Vers dieses Preises der Agape. Als wir zu den Worten kamen: »Die Liebe ist langmütig und freundlich … sie läßt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu …« fragte ich ausdrücklich, ob dies wirklich zutreffe und kein Haß noch Bitterkeit auch gegenüber den Verklägern und Richtern das Herz erfülle. Fest und klar lautete die Antwort: »Nein, nicht soll Böses mit Bösem vergolten werden, und alle Bitterkeit ist ausgelöscht.« Angesichts solcher eigens betonter Gesinnung konnte die Absolution leichten Herzens erteilt werden und das Mahl der Liebe und Vergebung, das nach der Lehre der Kirchenväter und Luthers auch ein »Heilmittel gegen den Tod und für die Unsterblichkeit« ist, wahrhaft im Geiste und Sinne seines Stifters gefeiert werden. Die Armesünderzelle weitete sich zum heiligen Gottestempel. Man vermeinte das Flügelrauschen der Engel Gottes zu vernehmen, die sich bereiteten, die Seelen versöhnter Gotteskinder emporzuführen in den Saal der Seligkeit. – Wer so stirbt, der stirbt wohl – auch wenn sein Haupt unter dem Henkerbeile fällt.
In ähnlicher Weise vollzog sich auch die Abschiedsstunde der ebenso lieblichen wie tapferen Schwester Sophie. Sie hatte vormittags noch vor dem Volksgerichtshof unerschrocken ausgerufen: »Was wir schrieben und sagten, das denken Sie alle ja auch, nur haben Sie nicht den Mut, es auszusprechen« – wogegen erstaunlicherweise nicht einmal der Oberreichsanwalt Einspruch erhob! Jetzt erklärte sie, es sei ihr gänzlich gleichgültig, ob sie enthauptet oder gehenkt würde. Sie hatte bereits ihren Eltern und ihrem Freunde, einem 25 jährigen Hauptmann, der nichtsahnend infolge einer bei Stalingrad
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