Die weissen Feuer von Hongkong
herangeschleppt hatte.
Trotz der Schwere dieser Arbeit fühlte Judith sich glücklich, weil sie wenigstens eine Mahlzeit am Tag bekam. Aber noch bevor es Sommer wurde, lief sie von der Küche weg. Der Kommandeur der Truppe schickte eines Tages einen Lastwagen aus, der nach ein paar Stunden mit einigen Dutzenden junger Mädchen zurückkam, die in den Straßen aufgegriffen worden waren. Jedes Soldatenbordell der Japaner sah seinen besonderen Stolz darin, die jüngsten Mädchen zu besitzen. Judith ahnte, was der Koch sagen würde, als er einen Tag später mit einem halbwüchsigen Jungen erschien und sie zu sich winkte.
»Ab morgen trägt er das Wasser. Jungen sind stärker als Mädchen. Für dich gibt‘s andere Beschäftigung.«
»Ja, Herr.« Judith nickte gehorsam.
»Du gehst da drüben in das Gebäude, wo die anderen Mädchen sind. Verstanden?«
»Ja, Herr, gewiß«, sagte sie. Aber sie ging nur wenige Schritte auf das Gebäude zu, in das man die Mädchen gebracht hatte. Als der Koch nicht mehr auf sie achtete, sprang sie über den Zaun, der das Lager von der Straße trennte, und lief davon.
Wieder vagabundierte sie durch die Stadt. Und immer sah sie die gleichen Bilder: Hungernde, Sterbende, tötende Soldaten, brennende Häuser. Flugzeuge jagten über die Häuser und warfen Bomben: Seuchen rafften Menschen dahin. Exekutionskommandos richteten ihre Gewehre auf Verurteilte, die Japan Widerstand geleistet hatten: Kommunisten, patriotische Kuomintangoffiziere, Intellektuelle. Die Schar der Kinder, die in den verwahrlosten Hallen des Stadtgottempels hauste, vergrößerte sich. Bald wuchsen sie zu einer engen Gemeinschaft mit selbstgeschaffenen Gesetzen zusammen. Arbeit und Diebeszüge wurden geplant, das Essen mit denen geteilt, die krank oder zu schwach zum Arbeiten waren. Es gab welche unter ihnen, die es fertigbrachten, aus dem Fleisch einer Ratte einen wohlschmeckenden Braten zuzubereiten, andere verstanden es ausgezeichnet, Vogelschlingen zu legen. Sie alle achteten aufeinander. Einer half dem anderen, und keiner betrog einen, der zu ihrer Gemeinschaft gehörte. Auch das war Gesetz bei ihnen.
Der Sohn des Kohlenträgers verschaffte Judith die nächste reguläre Arbeit. Auf dem Kohlenplatz wurde ein Helfer gebraucht. Das Mädchen war kräftig genug dafür. Außerdem bot die Beschäftigung eines Kindes den Vorteil, daß man ihm weniger zu zahlen brauchte als einem Erwachsenen. Für Judith war es, als täte sich ein Wunderland des Wohlstandes auf. Sie bekam jede Woche einige Geldscheine dafür, daß sie Kohlen »buk«. Kohlen waren wertvoll und teuer. Deshalb heizten die Leute die kleinen eisernen Kochöfen, auf denen sie ihre knappen Mahlzeiten zubereiteten, mit eigenartigen Würfeln. Dieses Brennmaterial wurde auf den Lagerplätzen der Kohlenhändler auf höchst primitive Weise hergestellt. Minderwertiger Steinkohlenstaub wurde mit Schlamm oder angefeuchteter Erde gemischt und flach auf dem Erdboden ausgebreitet. Danach wurde dieser Fladen mit Hilfe eines Kanteisens in handliche Würfel geteilt, die die glühende Sonne schnell trocknete. Meist wurden sie noch am selben Tag verkauft.
Auch Tsang arbeitete auf dem Kohlenplatz. In den ersten Tagen bekam Judith noch Blasen an die Handflächen, dann aber gewöhnte sie sich an die Arbeit mit der schweren Schaufel und dem Kanteisen und gewann Routine. Einige Wochen später kannte sie sich in einem Trödlerladen eine Drillichhose und ein Jackett kaufen, und als der Sommer zu Ende ging, reichten ihre Ersparnisse für ein Paar gummibesohlte Leinwandschuhe. Den Winter verbrachte sie wieder in der Gesellschaft der anderen im Stadtgottempel, sobald die Saison auf dem Kohlenplatz erneut begann, war sie dabei.
Ihr Körper veränderte sich. Aus dem Kind wurde ein junges Mädchen, dessen kohlegeschwärztes Gesicht nicht darüber hinwegtäuschen konnte, daß es schön war. Manchmal, wenn sie am Abend müde ihr Schlaflager im Tempel aufsuchte, dachte sie daran, daß sie einmal die deutsche und die englische Sprache gelernt hatte. Einzelne Wörter kamen ihr ins Gedächtnis zurück, aber sie vergaß immer mehr davon.
Judith Huang war fünfzehn Jahre alt, als die Alliierten den deutschen Faschismus und etwas später die japanischen Landräuber bezwungen hatten. In dem Leben des Mädchens änderte sich dadurch nichts. Die Amerikaner landeten in Schanghai, und in die zuvor von den Japanern besetzt gewesenen Unterkünfte zogen amerikanische Marinesoldaten ein. Es waren gutgenährte
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