Die weissen Feuer von Hongkong
bunte Fähnchen und Schilder über den Bund, sie forderten den Abzug der Japaner und das Recht der Selbstbestimmung für China. Die Kinder sahen den Zug herankommen, sie bemerkten auch die schnellen Fahrzeuge der japanischen Militärpolizei, die ihm entgegenflitzten. Als die ersten Schüsse fielen, drückten sich die Kinder in die Hauseingänge. Zusammenstöße dieser Art waren in Schanghai so alltäglich geworden wie die kurzen, heftigen Regenschauer im Sommer. Man brachte sich, so gut es ging, in Sicherheit und wartete das Ende ab. Oft verbarrikadierten sich einige der Demonstranten in einem Haus; dann wurden Maschinengewehre und Flammenwerfer aufgefahren, um sie auszuräuchern. Auch jetzt war es wieder so. Eine halbe Stunde später schlugen hohe Flammen aus einem der Lagerschuppen am Kai, wo sich die überfallenen Studenten zusammen mit Hafenarbeitern verteidigten.
Judith starrte mit angstgeweiteten Augen zu dem Feuer hinüber. Seit sie sich erinnern konnte, gab es diese Bilder: hungernde Menschen, kämpfende Menschen, Sterbende. Und immer stand irgendwo etwas in Flammen.
Der Junge des Kohlenträgers Tsang packte sie schließlich am Arm und flüsterte ihr zu: »Komm, ich habe etwas gefunden.«
Unweit der Stelle, an der sie standen, war der Kücheneingang eines japanischen Restaurants. Der Aufruhr auf der Straße hatte die Köche und das Hilfspersonal herausgelockt. Wieselflink huschte Tsang durch die Tür und ergriff alles, was er in dieser Eile unter sein Hemd stopfen konnte. Judith warf er einen Kohlkopf in die Spielschürze, das Mädchen verbarg ihn ängstlich unter dem weißen Stoff. Dann rannten sie los. Erst in der Gasse, in der sie wohnten, blieben sie atemlos stehen. Es war ihnen niemand gefolgt.
»Teilen wir«, schlug der Junge vor. Aber Judith gab ihm den Kohlkopf und sagte: »Nimm alles. Ich werde schon satt.«
»Ein Stück Fleisch wenigstens.« Tsang drückte ihr ein handtellergroßes Stück blutiges Kalbfleisch in die Hand. Er bestand darauf, daß sie es nahm, und lief davon.
An der Türschwelle vor dem Hause von Judiths Pflegeeltern hatte sich ein Bettler niedergelassen. Das Kind kannte ihn, denn er war schon öfter in der Gasse gewesen, ein alter, lungenkranker Mann mit grauem Gesicht und dünnem Kinnbart. Seine Augen waren geschlossen. Vorsichtig stieg Judith über ihn hinweg und stieß die Tür auf. Sie beugte sich über ihn und rief ihn an, aber er bewegte sich nur sehr schwach, als er das Kind erkannte. Sein langer schwarzer Kaftan war verschmutzt und zerschlissen.
»Da«, sagte Judith, »wenn du Hunger hast.« Sie legte ihm schnell das Stück Fleisch in die Hände und schlüpfte durch die Tür. Der Alte starrte auf das unerwartete Geschenk. ln seinen Augen war für Sekunden ein schwaches Flackern. Er versuchte sich zu erheben, aber es gelang ihm nicht. Bis hierher hatte er sich geschleppt, nun waren seine Kräfte verbraucht. Mit großer Mühe führte er das rohe Fleisch zum Mund, aber er war nicht mehr imstande, es zu essen. Ein paar Minuten mühte er sich ab, dann wurden seine Atemzüge röchelnd, und er sank in sich zusammen. Als hätte er sich nur für eine Stunde zum Schlaf niedergelegt, blieb er vor der Tür liegen. Um ihn herum ging das Leben in der Gasse weiter. Man beachtete ihn nicht, bis jemand entdeckte, daß er gestorben war. Da holten ihn die Totenträger, und sie teilten sich das Stück Fleisch, das der Gestorbene immer noch fest umkrallt hielt.
Die Pflegeeltern brachten es fertig, Judith ein Minimum an Bildung zu verschaffen. Sie hatten das Kind liebgewonnen, und auch das Mädchen hing an ihnen. Mann und Frau teilten sich in die Aufgabe, ihr das Lesen und Schreiben in der deutschen und englischen Sprache beizubringen. Das Kind war gelehrig. Es sprach auch chinesisch, weil es das von den Spielgefährten lernte, mit denen es herumvagabundierte und Eßwaren stahl, ohne daß die Eltern davon erfuhren. Ein von den Japanern abgesetzter chinesischer Professor, der sich in dem Viertel verborgen hielt, gab ihr gegen eine geringe Bezahlung Unterricht in Rechnen, Geographie und Geschichte.
Als die Japaner Hawaii bombardierten, war Judith elf Jahre alt. Der Krieg, der in Asien bisher auf China beschränkt gewesen war, brach von den Küsten der Philippinen bis zum Malaiischen Archipel los.
Die japanische Militärpolizei kam nach Mitternacht, ein halbes Dutzend bis an die Zähne bewaffneter Männer, die die Hoftür einschlugen und mit schußbereiten Gewehren ins Haus eindrangen.
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