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Die weissen Feuer von Hongkong

Die weissen Feuer von Hongkong

Titel: Die weissen Feuer von Hongkong Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Thürk
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Judiths Pflegeeltern mußten eine solche Aktion erwartet haben, denn die Mutter zog dem Kind
    schnell ein Kleid an und hob es über die rückwärtige Hofmauer, bevor die Soldaten es zu Gesicht bekamen.
    »Lauf schnell! Lauf zu Professor Hsin, er nimmt dich auf, er hat es uns versprochen.« Das waren die letzten Worte, die Judith von ihren Pflegeeltern hörte. Japan, der Achsenpartner Hitlers, führte in diesen Tagen eine genau vereinbarte Aktion durch, während der alle Europäer, die nicht mit den japanischen Besatzungsbehörden zusammengearbeitet hatten, in Sammellager gebracht wurden. Danach folgte die Internierung. Bei der Untersuchung der Personalien der Pflegeeltern hatte sich herausgestellt, daß sie von den deutschen faschistischen Behörden als Verräter betrachtet wurden, die vom Ausland aus für fremde Zeitungen Artikel gegen das Hitlerregime geschrieben hatten. Man erschoß sie zusammen mit einer Anzahl Engländer und Franzosen an einem kühlen Januarmorgen, kurz bevor die Sonne aufging. Ein Kommando chinesischer Zwangsarbeiter verscharrte sie dort, wo man sie erschossen hatte. Es war an der Einfriedungsmauer des großen Pavillons an der Lung-Hua-Pagode, im Süden der Stadt.
    Judith traute sich erst Stunden später zu dem Haus, in dem Professor Hsin wohnte. Sie fand nur zerschlagene Türen und Fenster, durcheinandergeworfene Bücher und Hausrat. Die Japaner hatten auch Hsin geholt.
    Am Morgen traf sie Tsang. Der Junge hockte auf dem Sockel eines steinernen Löwen unweit des Stadtgottempels und hielt Judith wortlos eine Handvoll Melonenkerne hin, die er von einem Geschäftsmann in der Nangking Road für eine Dienstleistung bekommen hatte. Er musterte das Mädchen aufmerksam, während es die Kerne knabberte. Nach einer Weile sagte er: »Manchmal habe ich dich beneidet, weil dich die Europäer aufgenommen hatten. Aber jetzt bist du schlechter dran als ich.«
    Kaum eines der Kinder hatte je daran gezweifelt, daß Judith Chinesin war. Es gehörte zu den alltäglichen Erscheinungen in diesem Land, daß neugeborene Mädchen von den Eltern ausgesetzt wurden. Mädchen waren in diesen Zeiten unnütze Esser. Die Not hatte oft genug den Mutterinstinkt verkümmern lassen. Ausgesetzte Kinder wurden zuweilen von irgendwelchen Hilfsorganisationen weltlicher oder religiöser Art aufgelesen, und manchmal nahm eine europäische Familie ein solches Kind zu sich. Judith sah aus wie jedes andere chinesische Kind, sie war nur etwas besser gekleidet und ernährt. Nun aber stand sie allein in der Millionenstadt.
    Als es Mittag wurde, brach sie mit Tsang und einigen anderen Gefährten zu deren alltäglichem Streifzug auf, dessen Zweck es war, Lebensmittel zu stehlen. Sie wühlten die Abfallplätze durch und trieben sich im Hafen herum, wo sich hin und wieder ein paar Gemüsereste fanden oder ein halbverfaulter Fisch. Die Nacht verbrachte sie in einem Schuppen auf dem Kohlenplatz, wo Tsangs Vater arbeitete. Später schloß sie sich einer Gruppe vagabundierender Kinder an, die ihr Hauptquartier in einer der Hallen des Stadtgottempel hatten. Diese Halle war dem Gott des Reichtums gewidmet. Seine Statue stand zwischen den Abbildungen von Dienern und Gelehrten: ein feister, gemütlich lächelnder alter Herr, dem die Kinder bald keinen Blick mehr schenkten.
    Sie schliefen eng aneinandergeschmiegt, weil sie nichts besaßen, womit sie sich in den kühlen Nächten hätten zudecken können. Tagsüber durchstreiften sie die Stadt und stahlen oder bettelten sich ihr Essen zusammen. Manchem gelang es, für kürzere oder längere Zeit eine Beschäftigung zu bekommen, aber dann mußten sie sich schon zu sehr niedriger Entlohnung verdingen, denn es gab annähernd drei Millionen hungernder Chinesen in Schanghai, und Arbeit zu bekommen war ein großes Glück.
    Ein paar Wochen trug Judith Wasser für die Küche einer japanischen Militäreinheit. Sie mußte bereits zwei Stunden vor Sonnenaufgang anfangen. An einer langen, federnden Bambusstange schleppte sie über der Schalter zwei Wassergefäße von einer Zapfstelle im Hafen bis in die Küche, die unweit des ausgebombten »Cathay«-Hotels lag. Bis zum Mittag versah sie diese Arbeit, ohne etwas gegessen zu haben. Erst nach dem Mittagessen erlaubte ihr der Koch, sich die Speisereste aus den Kesseln zu kratzen. Manchmal blieb etwas übrig, was sie in eine Schale füllte und am Abend mit in das Quartier im Tempel nahm, nachdem sie am späten Nachmittag nochmals drei Dutzend gefüllte Wasserbehälter

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