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Die weissen Feuer von Hongkong

Die weissen Feuer von Hongkong

Titel: Die weissen Feuer von Hongkong Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Thürk
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einer Hausangestellten gerettet. Eine deutsche Journalistenfamilie, die mit den Huangs befreundet gewesen war, nahm Judith zu sich. Es waren bürgerliche Journalisten, die ein Jahr später, mit dem Machtantritt Hitlers in Deutschland, ihre Arbeitsbasis verloren. Aber sie kehrten nicht heim, sondern blieben in Schanghai, wo sie Beschäftigung als Übersetzer fanden.
    In der Gegend um den Stadtgottempel wohnten nur wenige Ausländer. Das verwirrende Durcheinander der engen Gassen war ein Reservat der ärmsten chinesischen Bevölkerung. Hier waren die Häuser primitiv, und ein Hofgrundstück, mit einer Mauer umgeben, kostete nur den hundertsten Teil der Summe, die für eine der modernen Villen am Stadtrand aufgebracht werden mußte. Judiths Pflegeeltern verdienten genug zum Leben, trotzdem richteten sie sich sparsam ein und verzichteten auch auf den Luxus der Ausländerniederlassung. Sie blieben in der Gasse am Stadtgottempel wohnen. Judith erinnerte sich heute noch an die Jahre, die sie als Kind in jener turbulenten Gegend verbracht hatte, von der die Einheimischen behaupteten, dort sei die alte, ewig unzerstörbare Seele Schanghais.
    Sie kam durch das Hoftor, ein kleines Mädchen von sechs Jahren, das ein billiges Kattunkleid und eine Spielschürze trug. Für die Kinder der Rikschakulis und Hafenarbeiter, der Lastenträger und Straßenhändler galt sie als reich. Aber ihre Eltern wohnten im Viertel der Ärmsten, das machte sie zu einer gleichberechtigten Spielgefährtin.
    Über der Stadt kreisten die Flugzeuge der Japaner, über den Whangpoo flitzten ihre Patrouillenboote. Im Hafen lagen die großen, grauen Kriegsschiffe. Es gab kaum ein öffentliches Gebäude, von dem nicht die weiße Flagge mit dem roten Sonnenball wehte, das Wahrzeichen japanischer Macht.
    »Hast du heute schon etwas gegessen?« fragte Tsang, der jüngste Sohn des Kohlenträgers aus der Hu-Kuang-Gasse. Judith nickte. Der Junge, der eine zerlumpte blaue Hose und die Reste eines einstmals weißen Unterhemdes trug, sagte: »Ich nicht.« Er beoachtete einen Trupp japanischer Soldaten, die mit geschulterten Gewehren ihre Streife machten. Sie trugen olivgrüne Uniformen und Kappen, Nagelschuhe und Wickelgamaschen. An den Gewehrläufen blitzten lange Bajonette.
    »Immer haben sie die Messer aufgesteckt, die Inselzwerge«, flüsterte der Junge. »Mein Vater sagt, sie wischen das Blut nicht einmal ab, wenn sie einen erstochen haben. Ob sie noch lange bleiben? Was meinen deine Eltern?«
    »Ich weiß nicht«, antwortete Judith. Ihre Pflegeeltern unterhielten sich nie in Gegenwart des Kindes über Politik.
    Hm« brummte der Junge unbefriedigt. Der Hunger bohrte in seinem Magen. »Komm«, forderte er das Mädchen auf, »im Stadtgottempel steht noch Lotos auf den Teichen, holen wir uns ein paar Wurzeln zum Knabbern.« ‚
    Der Stadtgottempel mit seinem großen Park war eine der vielen historischen Sehenswürdigkeiten Schanghais. Er war einige Jahrhunderte alt, die Kultstätte Chin Yu-pais, des Schutzgottes der Stadt. Die prachtvollen Bauwerke und Grünanlagen, die künstlichen Felsen und Tierfiguren waren verwahrlost, Pavillons und Brücken baufällig. Hierher kam nur noch selten jemand, um die verfallende Schönheit dieses Fleckchens zu genießen. Auch der traditionelle Markt um den Tempel herum, der seit mehr als fünf Jahrhunderten bestand, starb langsam unter den Lebensbedingungen, die Japans Besatzung der Stadt aufzwang. Früher hatte es in den engen Gassen eine Unzahl von Teehäusern und Restaurants gegeben. Händler mit Gemüse und Fleisch, Weihrauch und Singvögeln, Früchten und Tabak, Gewürzen und Arzneien hatten hier residiert. Kunsthandwerker hatten Elfenbeinschnitzereien und Rollbilder, Tonfiguren und Scherenschnitte angeboten. Was heute davon noch übrig war, ließ den Niedergang der Wirtschaft und des Handels erkennen, den das japanische Besatzungsregime mit sich gebracht hatte.
    An einem der kleinen Teiche im Tempelgebäude warf der Sohn des Kohlenträgers Hemd und Hose ab und sprang in das stinkende Wasser. Nach einer Weile erschien er mit einer Handvoll schlammverkrusteter Lotoswurzeln, die er mit Judith teilte. Sie knabberten die angenehm süß schmeckenden Knollen, und es fanden sich noch ein paar andere Kinder aus der Gegend, die später mit ihnen zum Whangpoo zogen. Gelegentlich glückte es dort einem der Jungen, ein Stück Kohle zu stehlen. Diesmal gab es hier einen Aufruhr, der den Kindern höchst gelegen kam.
    Ein Zug Studenten trug

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