Die weissen Feuer von Hongkong
meinte: »Das einzige, was sie klauen könnte, ist mein Walzgoldarmband. Es liegt mitten auf dem Tisch. Wenn sie damit verschwindet, ist der Verlust nicht groß.«
Judith dachte gar nicht daran, in dem fremden Haus etwas anzurühren, was sie nicht zur Arbeit brauchte. Als das Ehepaar gegen Morgen aus dem Klub zurückkam, hatte das neue Hausmädchen die gesamte Wohnung peinlich gesäubert, alles Geschirr gewaschen und sich dann vor der Tür des Kinderzimmers zum Schlafen hingelegt. Die beiden Heimkehrenden waren nicht so betrunken, um das zu übersehen.
Für Judith Huang begann ein Leben, das zunächst keine Wünsche offenließ. Ihre Pflichten waren leicht, verglichen mit den Arbeiten, die sie seit ihrem elften Lebensjahr verrichtet hatte. Sie hatte immer genug zu essen, bekam Geld und Kleider, konnte gelegentlich ein Kino besuchen oder Radiomusik hören. Alles das trug dazu bei, daß sie den Ereignissen im Lande kaum Beachtung schenkte. Auch als der Major an einem noch kühlen Frühlingsmorgen des Jahres 1949 die Nachricht brachte, daß seine Einheit nach Taiwan verlegt werde, änderte das in Judiths Dasein wenig.
Für Tschiang Kai-schek war das Ende des zweiten Weltkrieges das Signal gewesen, mit Unterstützung seiner amerikanischen Verbündeten zum entscheidenden Schlag gegen die Kommunisten auszuholen. Er hatte einige Anfangserfolge für sich verbuchen können; aber dann erwies es sich, daß das ganze chinesische Volk die Parole der Revolution aufgegriffen hatte, die nationale Selbständigkeit, Ackerland für die Bauern, Schulen für die Kinder und Wohlstand für alle Arbeitenden versprach. Das Volk scharte sich um die Kommunisten und bildete in kurzer Zeit jene Armeen, die nun, im Frühjahr 1949, nicht mehr weit vor Schanghai standen. Taiwan war für die korrupte, amerikanisierte Regierung samt ihren Verbündeten die letzte Zuflucht.
»Abwarten«, meinte Major Dunn, während er packte. »Wir werden China aufrollen, es wird nicht lange dauern. Wir machen eine Atempause in Taiwan, und dann geht es weiter.«
Judith legte Kinderwäsche in große Blechkisten. Der Major hatte ihr gesagt: »Du kommst mit. Es wird dir in Taiwan ebenso gefallen wie hier.«
In der Tat lebte sich Judith in dem neuen Bungalow am Rande von Taipeh schnell ein. Zuweilen machte sie sich jetzt Gedanken darüber, wo sie eigentlich hingehörte. War China ihr Heimatland? Oder Taiwan? Ihre Mutter war in Deutschland zu Hause gewesen. War Deutschland ihre Heimat?
Sie lernte Fred Kolberg auf eine etwas eigenartige Weise kennen, als sie in der Kantine für den Major Büchsenbier holte. Der große, blonde Flieger sah, daß sie Mühe hatte, das Dutzend Büchsen zu tragen. An der Tür bot er ihr an, sie ein Stück in seinem Jeep mitzunehmen.
»Wie weit müssen Sie denn?« erkundigte er sich. Das zierliche Mädchen mit dem langen schwarzen Haar und dem feingeschnittenen Gesicht zog ihn auf seltsame Weise an. Seit dem Verlust Tamikos hatte es keine Frau mehr gegeben, zu der er sich hingezogen fühlte.
Judith erwiderte etwas verlegen: »Ich muß bis zum Marine-Camp. Zu Major Dunn.«
Bevor sie ausstieg, fragte er beiläufig: »Sie leben mit ihm zusammen?«
Sie begriff seine Frage nicht ganz und sagte: »Ich bin ... Kindermädchen.«
Als er sie das nächste Mal in der Kaufhalle sah, begrüßte er sie und erbot sich, sie wieder bis zum Camp zu fahren. Sie hatte keinen Grund, das abzulehnen. Sie war jetzt lange genug unter den ausländischen Soldaten, um sie einigermaßen einschätzen zu können. Dieser hier hatte nicht die poltrige Überheblichkeit, durch die sich die meisten seiner Landsleute auszeichneten. Er war ruhig, besonnen.
»Sie sind Flieger?« fragte sie während der Fahrt.
»Bei der CAT. Sind Sie in Taipeh zu Hause?«
Er merkte, wie sie überlegte, ehe sie antwortete: »In Schanghai.«
Der Pilot warf ihr einen Seitenblick zu. »Geflüchtet?«
»Eigentlich nicht. Nur mit der Familie des Majors mitgekommen.«
Fred Kolberg lächelte. »Sicher wollen Sie auch mit nach Amerika gehen, wenn der Major einmal zurückversetzt wird?«
Etwas erstaunt sah er, daß sie unentschlossen die Schultern zuckte. Dann sagte sie: »Ich weiß nicht. Ist Amerika schön?«
»Keine Ahnung«, brummte er. »Bin nie dort gewesen.«
»Kommen Sie nicht von dort?«
»Nein«, sagte er. »Aus Deutschland.«
Er bremste den Jeep vor dem Bungalow des Majors. Aber Judith stieg nicht gleich aus, sie wandte ihm ihr Gesicht zu und fragte: »Sie sind
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