Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
irgendwo da draußen: Suchen Sie ihn gefälligst!«
Lydia öffnete den Mund, doch Chris kam ihr zuvor. »Sie haben ganz recht, Herr Bruckmann. Für den Moment genügt uns das. Wir melden uns bei Ihnen, wenn wir weitere Fragen haben.«
Drei Minuten später waren sie wieder draußen beim Wagen.
»Du hättest lieber dafür sorgen sollen, dass ich allein mit der Mutter sprechen kann«, sagte Lydia verärgert. »Ohne den Schutz Ihres Mannes hätte ich bestimmt mehr aus ihr herausbekommen.«
Chris schüttelte den Kopf. »Was, wenn die beiden nichts mit dem Tod ihrer Tochter zu tun haben? Dann ist es das Grausamste, was wir tun können, sie auch noch fälschlich zu verdächtigen.«
»Wie wahrscheinlich ist das denn?«, gab Lydia zurück. »Es gibt keine Einbruchspuren, es ist im Elternhaus passiert, der Vater saß mit der toten Tochter im Arm da, als der Notarzt eintraf. Was willst du noch?«
»Eindeutige Beweise.«
Lydia schloss den Wagen auf und ließ sich auf den Sitz fallen. »Je mehr Zeit die beiden haben, desto besser können sie ihre Aussagen abstimmen.«
Chris stieg auf der Beifahrerseite ein. »Wir haben nichts außer ein paar vagen Verdachtsmomenten gegen die Eltern. Das reicht nicht, das weißt du genau. Es gibt unzählige andere Möglichkeiten, was passiert sein kann. Wenn tatsächlich einer der beiden der Täter ist, dann finden wir das heraus. So oder so. Und wenn nicht, dann möchte ich mir nicht vorwerfen müssen, diese Menschen unnötig gequält zu haben.«
Lydia starrte ihn an, dann verzog sie mit einem Mal das Gesicht zu einem Grinsen. »Weißt du, was dein Problem ist, Salomon?«
Er schüttelte den Kopf, verwundert über ihren plötzlichen Stimmungswandel.
»Du hast ein zu gutes Herz.«
Kriminalhauptkommissar Klaus Halverstett blickte überrascht auf, als seine Kollegin Rita Schmitt sich erhob und mit einer Hand nach ihrer Jacke griff. »Ich mache Mittag. Bin in einer Stunde wieder da.«
Ihr strahlendes Lächeln verriet ihm, dass sie nicht allein essen würde. Seit ein paar Monaten gab es einen geheimnisvollen Mann in Ritas Leben. Halverstett wusste nicht viel mehr als seinen Namen: Rafi. Nachdem er die unangenehmen Nebenerscheinungen dieser für ihn rätselhaften Beziehung – Duftkerzen, Räucherstäbchen und grünen Tee – weitgehend aus ihrem gemeinsamen Büro verbannt hatte, genoss er die Vorzüge umso mehr. Rita war stets gut gelaunt, verlor selten die Geduld, und vor allem achtete sie kaum darauf, was mit ihrem Partner los war. Früher wäre ihr das Desaster in seinem Privatleben nicht entgangen, auch wenn sie es mit keinem Wort erwähnt hätte. Aber diesmal war er sicher, dass sie überhaupt nicht bemerkt hatte, dass etwas nicht stimmte. Den Mann, der all das bei einer Frau bewirkt hatte, würde er gern einmal kennenlernen, zumal er selbst Rita am ehesten als netten Kumpel ohne besondere weibliche Reize beschrieben hätte. Aber da sie beide Privates bisher streng aus ihrer beruflichen Beziehung ferngehalten hatten, war damit wohl in nächster Zeit kaum zu rechnen.
Er winkte ihr zerstreut hinterher und warf einen kurzen Blick auf die Uhr. Viertel nach elf. Vermutlich frühstückte Rita um sechs. Aber nicht weil sie wie er nicht mehr schlafen konnte, sondern weil sie eine notorische Frühaufsteherin war, die bereits in den jungfräulichen Stunden des Tages eine unerträgliche Heiterkeit verbreitete.
Halverstett seufzte und blickte auf den Bildschirm. Der Bericht war fertig, er brauchte ihn nur noch auszudrucken. Doch das war leichter gesagt als getan. Wenn der Fall erst einmal abgeschlossen war, war er abgeschlossen. Und zwar endgültig. Irgendetwas ließ ihn zögern, diesen letzten Schritt zu tun. Instinkt vielleicht. Oder dreißig Jahre Berufserfahrung. Womöglich aber auch nur sein Dickschädel.
Eigentlich war der Fall sonnenklar. Fred Gärtner, ein Stadtstreicher, besser bekannt unter dem Namen »Der Märchenonkel« war im Alkoholrausch verstorben. Nicht erfroren, obwohl die gefährliche Saison für Obdachlose bereits begonnen hatte. Nein, er war eine Treppe hinuntergestürzt. Wie das Mädchen, deren Tod seine Kollegen gerade untersuchten. Die Treppe war allerdings die einzige Gemeinsamkeit zwischen beiden Fällen. Der Märchenonkel war dreiundsechzig Jahre alt gewesen, leicht unterernährt und stockbesoffen. 1,8 Promille hatten sie in seinem Blut gefunden. Er war in der Altstadt zu Tode gekommen, die Treppe hinuntergefallen, die vom Burgplatz zur Rheinuferpromenade führte.
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