Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
Diercke betrachtete sie abschätzend. »Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen. Natürlich hatte sie hin und wieder Auseinandersetzungen mit ihren Eltern. Wie jedes gesunde Kind. Aber das war alles im Rahmen des Üblichen. Toni war kein Problemkind, falls Sie das andeuten wollten. Sie war vollkommen normal. Ich bin Lehrerin, ich kenne Hunderte von Kindern. Ich weiß, wovon ich rede.«
Lydia wechselte das Thema, bevor die Frau sich weiter in Rage reden konnte. »Herr Bruckmann sagte uns, dass Toni gestern Nachmittag hier war. Erinnern Sie sich, wann sie gegangen ist?«
Kerstin Diercke legte die Stirn in Falten und strich sich eine graue Strähne hinter das Ohr. »Ich denke schon den ganzen Vormittag darüber nach. Ich weiß es nicht mehr genau. Sie sollte um fünf zu Hause sein, das hat sie mir im Auto gesagt. Aber die beiden sind früher los. Irgendwann nach vier. Ich habe nicht darauf geachtet. Kurz zuvor bekam Nora einen Anruf von einer Freundin.«
»Was für eine Freundin? Ein Mädchen aus der Schule?«
»Das weiß ich nicht. Nora ist selbst ans Telefon gegangen. Als ich dazukam, sagte sie, der Anruf sei für sie, und ist mit dem Telefon in ihrem Zimmer verschwunden. Wenig später sind die beiden aufgebrochen.«
»Die beiden?«, fragte Salomon.
»Nora hat Toni nach Hause gebracht.«
»Wann war sie wieder hier?«
Kerstin Diercke sah unglücklich aus. »Mir ist klar, dass diese Informationen wichtig für Sie sind. Ich würde Ihnen so gern helfen, aber ich weiß es nicht. Ich bin kurz nach den Mädchen selbst weggegangen. Ich war einkaufen und danach noch mit dem Hund draußen. Als ich die Einkäufe hier abgestellt und den Hund geholt habe, bin ich gar nicht auf die Idee gekommen nachzusehen, ob Nora schon wieder da ist. Sie ist so vernünftig und zuverlässig. Ich habe keine Veranlassung, sie ständig zu kontrollieren. Ich war erst gegen sechs wieder zu Hause. Da saß Nora vor dem Fernseher.«
»Ist Nora jetzt hier? Sie haben doch am Telefon gesagt, dass sie nicht in die Schule gegangen ist.« Salomon blickte sich suchend um, als hätte er das Mädchen übersehen. »Wir würden gern mit ihr sprechen. Vielleicht erinnert sie sich an die genauen Uhrzeiten.«
Kerstin Diercke zögerte. »Es geht ihr nicht gut. Sie steht unter Schock. Deshalb habe ich sie heute nicht in die Schule geschickt. Ich bin auch zu Hause geblieben, um mich um sie zu kümmern. Morgen muss ich wieder arbeiten, aber Nora werde ich diese Woche noch nicht wieder zur Schule gehen lassen. Mein Sohn wird auf um sie aufpassen.«
Wie auf Kommando ertönte in diesem Augenblick das Klimpern von Schlüsseln hinter der Wohnungstür. Kurz darauf trat ein junger Mann in Jeans und Windjacke ein, der einen großen schwarzen Mischling an der Leine führte.
»Hast du kontrolliert, ob Tommy saubere Pfoten hat?«, rief Kerstin Diercke ihm zu.
»Ja, ja«, brummelte der junge Mann.
»Mein Sohn Jan«, erklärte sie. Dann drehte sie sich wieder zu dem jungen Mann um. »Jan, das ist die Polizei. Wegen Toni.«
»Tag«, murmelte Jan Diercke und fügte an seine Mutter gewandt hinzu: »Ich bringe Tommy ins Wohnzimmer.«
Er verschwand durch eine Tür.
»Ihr Sohn ist deutlich älter als Ihre Tochter«, stellte Salomon fest.
»Nora ist ein Nachkömmling«, sagte Kerstin Diercke lächelnd. »Sie war eigentlich nicht geplant. Aber sehr willkommen.«
»Jan wohnt noch zu Hause?«
»Nein. Er studiert und hat eine eigene Wohnung. Aber er ist oft hier. Er hilft mir. Sie müssen wissen, ich bin geschieden. Mein Exmann und ich, wir sind gute Freunde geblieben, er kümmert sich viel um Nora. Aber den Alltag muss ich trotzdem allein bewältigen. Jan kommt so oft wie möglich vorbei, geht mit dem Hund raus oder hilft mir beim Einkaufen. Er hatte ein paar schwierige Phasen, aber jetzt hat er sich gefangen.« Sie blickte auf die Wohnzimmertür, hinter der ihr Sohn verschwunden war.
Lydia räusperte sich ungeduldig. Sie hatte bereits mehr über diese Familie erfahren, als sie jemals wissen wollte. »Könnten wir jetzt mit Nora sprechen?«
»Natürlich.« Kerstin Diercke erhob sich und ging den Flur hinunter. Vor einer Tür mit einem rosa Schild, auf dem in verschnörkelten Buchstaben »Nora« stand, blieb sie stehen und wandte sich um. »Nora weiß nichts von der Vergewaltigung«, sagte sie leise. »Ich wäre froh, wenn es dabei bleiben würde. Sie ist noch ein Kind. Sie würde nicht einmal begreifen, was das genau bedeutet.«
Salomon nickte verständnisvoll, Lydia
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