Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
Eigentlich war auf dieser Treppe immer etwas los. Sie galt als Treffpunkt für junge Leute und war der Stadtverwaltung als zugemüllter Schandfleck ein Dorn im Auge. Aber Fred Gärtner war allein gestorben. Zwei Wochen lang hatten sie nach Zeugen gesucht. Fehlanzeige. Gärtner hatte nichts besessen, weshalb ihn jemand hätte töten wollen, und Streit hatte er auch mit niemandem gehabt. Er war einfach gestürzt und hatte sich das Genick gebrochen. Manchmal gab es eben keine verborgene Wahrheit hinter den offensichtlichen Fakten.
Vorhin war Weynrath, der Leiter des KK 11 bei Halverstett aufgetaucht und hatte gedrängt, er solle den Fall endlich abschließen.
»Legen Sie den Penner zu den Akten«, hatte Weynrath ihn auf gewohnt unsensible Weise aufgefordert und dabei seine Fäuste in die Hüften gestemmt. »Es warten jede Menge andere Leichen auf uns. Das halbe KK 11 steckt in der ›Moko Toni‹ fest. Das tote Mädchen, Sie wissen schon. Unangenehme Geschichte. Alle übrigen Kräfte werden dringend gebraucht. Schreiben Sie den Bericht und kümmern Sie sich um die anderen Fälle.«
Halverstett hatte versucht, Einwände zu erheben, doch Weynrath hatte ihn abgewürgt. »Keine weitere Diskussion!« Gebieterisch hatte er auf den Kommissar herabgeblickt, der wehrlos auf seinem Stuhl saß. Vermutlich hatte er die ungewohnte Perspektive ausgekostet. Stehend waren alle seine Untergebenen mindestens einen Kopf größer als er, selbst die Frauen. Und das galt nicht nur für das KK 11, in der ganzen Festung, wie das Präsidium unter den Kollegen hieß, gab es niemanden, der zu Weynrath aufblicken musste. Halverstett vermutete, dass er bei seiner Einstellung irgendwie geschummelt hatte, denn die Mindestgröße für Polizeibeamte erreichte er bestimmt nicht. Eine Tatsache, die er jedoch mit seinem napoleonischen Gehabe mehr als wettmachte.
Halverstett hatte genickt und ärgerlich den Bericht in den Computer getippt. Er hasste es, einen Fall zu den Akten zu legen, wenn er das Gefühl hatte, er sei noch nicht abgeschlossen. Trotzdem musste er seinem Chef widerstrebend recht geben. Den Luxus, nahezu eindeutige Fälle wie diesen weiterzuverfolgen, konnten sie sich nicht erlauben. Dazu bräuchte das KK 11 mindestens doppelt so viele Mitarbeiter.
4
Nora Diercke lebte in etwas bescheideneren Verhältnissen als ihre Freundin Toni. Eine Wohnung in der dritten Etage eines Mietshauses auf der anderen Seite der Vennhauser Allee. Eine Frau Ende vierzig, die ihr fast vollständig ergrautes langes Haar selbstbewusst offen trug, öffnete ihnen die Tür.
»Frau Diercke? Ich bin Kriminalhauptkommissarin Lydia Louis, das ist mein Kollege Christopher Salomon.«
Die Frau nickte. »Sie haben angerufen, nicht wahr? Wegen Toni. Kommen Sie doch herein.«
Kerstin Diercke ging voran in eine geräumige, mit hellen Bauernmöbeln eingerichtete Essecke. Auf der mit Schnitzereien verzierten Eckbank lagen bunt gestreifte Kissen, über dem Tisch hing eine Lampe, die gut in eine bayrische Wirtsstube gepasst hätte. Ein massives Büfett verbreitete gediegene Gemütlichkeit. Lydia strengte sich an, nicht die Augen zu verdrehen. Wer richtete sich in einer rheinischen Etagenwohnung ein, als lebe er auf einer Almhütte?
Kerstin Diercke deutete auf die Essecke. »Setzen Sie sich doch. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee? Wasser?«
»Nein, danke«, erwiderte Lydia rasch. Sie hasste diese Höflichkeitsrituale, es sich bei Zeugen bequem zu machen, als sei man ein Gast wie jeder andere. Sie setzte sich auf die Bank, Chris hockte sich auf einen der Stühle mit geschnitztem Herz in der Rückenlehne. Kerstin Diercke nahm ebenfalls auf der Bank Platz.
»Stimmt es, dass man – dass Toni vergewaltigt wurde?«, fragte sie mit leiser Stimme.
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Lydia zurück. Sie hatten diese Information vor der Presse zurückgehalten.
»Ich habe mit Michael – mit Tonis Vater telefoniert. Er hat es mir erzählt. Schrecklich!« Sie schüttelte den Kopf. »Wer tut so etwas? Ich begreife das nicht.«
»Was für ein Mädchen war Toni?«, schaltete Salomon sich ein.
Kerstin Diercke sah ihn an. »Sie war ein ganz normales Kind von zehn Jahren, aufgeweckt, intelligent, neugierig und willensstark. Ich mochte sie sehr. Sie hat meiner Nora gutgetan. Nora ist ein wenig zurückhaltend, mit Toni an ihrer Seite ist sie selbstbewusster geworden.«
»Sie sagen, Toni war willensstark. Also hat es bestimmt zu Hause öfter mal gekracht?«, bohrte Lydia nach.
Kerstin
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