Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
hatte nicht die Absicht, irgendetwas zu versprechen, und klopfte an die Tür.
Nora saß in ihrem Bett. Am Fußende stand ein kleiner Tisch mit einem klobigen schwarzen Fernsehgerät, wo irgendeine Soap Opera lief. Der Tisch passte nicht zu der in Rosa und Weiß gehaltenen Einrichtung, und der Fernseher war viel zu groß für das kleine Zimmer. Offensichtlich war das Gerät vor kurzem hergeschafft worden. Fernsehen, der Tröster in allen Lebenslagen, dachte Lydia zynisch.
»Hallo, ich bin Chris.« Salomon ging mit ausgestreckter Hand auf das Bett zu. Das Mädchen warf ihm einen misstrauischen Blick zu. »Ich bin von der Polizei.« Er setzte sich zu ihr auf die Bettkante und deutete auf Lydia. »Das ist meine Kollegin Lydia.«
Nora musterte die beiden, dann glitt ihr Blick zurück zum Fernseher.
»Nora, stellst du das bitte aus und sprichst mit den Leuten«, ertönte Frau Dierckes Stimme hinter ihnen.
Wortlos nahm das Mädchen die Fernbedienung in die Hand und drückte einen Knopf. Mit einem Plopp wurde der Bildschirm schwarz.
»Du weißt, was mit deiner Freundin Toni geschehen ist?«, fragte Salomon behutsam.
Nora nickte, sah ihn aber nicht an, sondern starrte auf ihren Bettbezug, der mit Pferden bedruckt war.
»Ich habe gehört, dass ihr zwei gestern noch zusammen gespielt habt. Ist das richtig?«
Wieder ein stummes Nicken.
»Du möchtest doch sicher auch, dass der Mensch, der das getan hat, bestraft wird?«
Hastig warf Nora ihm einen Blick zu, dann senkte sie wieder den Kopf.
»Um diesen Menschen zu finden, brauchen wir deine Hilfe, Nora.«
Jetzt sah sie ihn länger an. Sie nickte.
»Toni war gestern bei dir?«
Wieder ein Nicken.
»Wann seid ihr hier angekommen?«
Nora sah kurz zu ihrer Mutter, dann zurück zu Salomon. »Nach der Schule«, antwortete sie. »Ich weiß nicht genau, wie viel Uhr es war. Drei?« Wieder blickte sie fragend zu ihrer Mutter.
Diese nickte. »Die Mädchen haben zusammen im Speisenhaus, also in der Schulkantine gegessen. Danach habe ich sie mit nach Hause genommen. Wir waren so gegen Viertel nach drei hier.«
»Danach hast du in deinem Zimmer mit Toni gespielt? Oder wart ihr draußen?«
»Drinnen.«
»Was habt ihr gespielt?«
Wieder der Blick zur Mutter.
Kerstin Diercke lächelte. »Eigentlich sollten sie Hausaufgaben machen«, erklärte sie. »Herr Bruckmann will das so.« Sie räusperte sich. »Wollte das so. Ich finde, die Mädchen sollten nach der Schule erst etwas ausspannen, deshalb achte ich nicht so darauf.« Sie blickte ihre Tochter eindringlich an. »Du kannst ruhig sagen, was ihr gemacht habt.«
»Wir haben Musik gehört und geredet.«
»Worüber habt ihr geredet?«, hakte Lydia nach.
Nora zuckte mit den Schultern. »Nichts Bestimmtes. Schule. Musik. So Zeug halt.«
Salomon lächelte sie aufmunternd an. »Und was für Musik hört ihr denn so?«
»Alles Mögliche. Justin Bieber, Hannah Montana, DSDS .«
» DSDS ?« Lydia runzelte die Stirn.
»Deutschland sucht den Superstar.« Nora sah sie ungläubig, fast verächtlich an. Zum ersten Mal blitzte etwas von dem Mädchen auf, das sie gewesen war, bevor ihre beste Freundin ermordet wurde. Doch es währte nur einen Augenblick.
»Hat Toni irgendwann einmal davon gesprochen, dass sie sich verfolgt oder beobachtet fühlt?«, wollte Salomon wissen. »Dass ein Fremder sie angesprochen hat?«
Nora schüttelte heftig den Kopf.
»Ist ihr irgendetwas anderes Komisches passiert?«, hakte Salomon nach. »Alles könnte wichtig sein, Nora. Auch wenn du meinst, dass es nichts mit dem zu tun hat, was deiner Freundin passiert ist.«
Wieder ein Kopfschütteln. »Ihr ist nichts Komisches passiert. Echt nicht.« Nora biss sich auf die Lippe. Tränen standen ihr mit einem Mal in den Augen. Sie sah Salomon an, als wollte sie ihn etwas fragen, doch dann trat ihre Mutter ans Bett.
»Ich denke, das reicht jetzt«, entschied Kerstin Diercke mit fester Stimme.
»Wir haben noch zwei Fragen«, sagte Lydia. »Dann sind wir weg. Nora, um wie viel Uhr seid ihr gestern zu Toni gegangen?«
Nora zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. So um vier vielleicht.« Wieder schossen ihr die Tränen in die Augen. Ihre Mutter nahm ihre Hand und drückte sie.
»Warum seid ihr so früh aufgebrochen? Toni musste erst um fünf zu Hause sein. Von hier sind es keine zehn Minuten zu ihrem Haus.«
»Wir hatten eben keine Lust mehr«, antwortete Nora unter Tränen. »Außerdem wollte Toni mir noch ein Spiel leihen.«
»Sie wollte dir ein Spiel
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