Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
legte sie misstrauisch jedes seiner Worte auf die Goldwaage, und er beäugte ebenso misstrauisch ihr Verhalten.
»Also gut«, lenkte er ein, als Melanie nichts erwiderte. »Fahr meinetwegen nach Hause. Gib Leonie einen Kuss von mir. Ich komme nach, sobald ich hier wegkann.«
Als er den Wagen vom Hof rollen hörte, krampfte sich sein Herz zusammen. Er zog seine Brieftasche hervor und nahm den Zettel heraus, den er seit Wochen darin aufbewahrte. Nachdenklich betrachtete er ihn. Er hatte sich eine Telefonnummer aus dem Internet darauf notiert. Gerade als er den Zettel wieder in der Brieftasche verschwinden lassen wollte, fiel sein Blick auf ein Foto. Er zog es hervor und betrachtete es. Ein Mädchen strahlte ihn an, blond, rotwangig und mit leuchtenden Augen. Ein Bild aus glücklichen Tagen. Oder doch nicht? Vielleicht waren jene Tage nur in seiner Erinnerung glücklich. Hatte Leonie sich nicht schon als winziger Säugling mit Koliken herumgequält? Wenn er ehrlich war, konnte er nicht mehr genau sagen, wann es begonnen hatte. Anfangs, als Melanie so oft mit der Kleinen beim Kinderarzt gewesen war, hatte er ihre Krankheiten nicht sonderlich ernst genommen. Es war verständlich, dass sie übervorsichtig war. Dass sie das Kind bei jedem kleinen Gluckser argwöhnisch musterte. Irgendwann war aus dieser nachvollziehbaren Sorge etwas anderes geworden, doch wann, wusste er nicht mehr. Es war unbemerkt geschehen. Sie hatten eine unsichtbare Grenze überschritten und waren ins Land des Leidens getreten, aus dem es kein Zurück gab.
Olaf Schwarzbach strich mit dem Finger über das winzige Gesicht. Leonie war nicht sein Kind, und doch war sie seine Tochter, die er über alles liebte. Die er beschützen musste. Er legte das Foto neben den Zettel auf seinem Schreibtisch, griff nach dem Telefon und tippte die Nummer ein.
5
Lydia ließ sich auf ihren Stuhl fallen und rieb sich die Schläfen. Hinter ihrer Stirn pochte es unangenehm, und das lag nicht nur am Alkohol der vergangenen Nacht. Der Fall machte sie kribbelig. Zu viel glückliche Familie. Solche Besuche wie der bei den Dierckes hinterließen bei ihr immer einen schalen Beigeschmack. An die heile Welt, die ihr da vorgegaukelt wurde, glaubte sie nicht. Sie sehnte sich nach einem tiefen Schluck Johnnie Walker und lauter Musik, die ihr das Hirn frei blies. Nachdenklich starrte sie auf die untere Schublade ihres Schreibtischs. Außer einem Stapel Kopierpapier lag nichts darin. Schon mehrfach hatte sie daran gedacht, hier eine Flasche zu deponieren. Nur für den Notfall. Sie wusste, dass das verdammt riskant war, aber sie war sich sicher, alles unter Kontrolle zu haben. Schließlich war sie keine Alkoholikerin. Sie brauchte nur hin und wieder einen Schluck für die Nerven. Wer konnte ihr das verdenken, bei alldem, was sie Tag für Tag zu sehen bekam? Ganz zu schweigen von dem, an das sie nicht denken wollte und das sie trotzdem heimsuchte, wenn sie nicht auf der Hut war. Dann konnte sie nachts nicht schlafen, Albträume quälten sie, hetzten sie wie eine Meute das Wild. Lydia schloss die Augen und lehnte sich zurück, lauschte dem Pochen hinter ihrer Stirn, versuchte, sich dem pulsierenden Rhythmus hinzugeben.
Ein Geräusch schreckte sie auf. Ein Knacken vor der angelehnten Bürotür. Rasch sprang sie auf und schnappte sich den vorläufigen Obduktionsbericht. Auf dem Korridor stieß sie mit Thomas Hackmann zusammen.
»Na, Louis, mal wieder zu stürmisch?« Er grinste anzüglich, entblößte dabei die Lücke zwischen seinen Schneidezähnen.
Sie wandte sich angewidert ab. Hatte dieser Mistkerl sie durch den Türspalt beobachtet? Ihre Gedanken rasten. Panisch versuchte sie, sich zu erinnern, was sie getan hatte. Nichts. Nur an ihrem Schreibtisch gesessen und nachgedacht. Erleichtert atmete sie aus. Daran war nichts Verfängliches. Solange sie ihre Gedanken nicht laut ausgesprochen hatte. Ihr fiel ein, was Reinhold Meier ihr vor einiger Zeit zugeraunt hatte: »Nimm dich vor Hackmann in Acht. Er ist zu neugierig.« Das war einer der Gründe gewesen, warum sie Hackmann nicht in der Moko haben wollte. Vermutlich war er stinksauer. Der Fall Toni Bruckmann war der interessanteste, an dem sie zurzeit im KK 11 arbeiteten. Jeder Kollege wäre gern dabei.
Am Ende des Korridors drehte Lydia sich noch einmal um. Hackmann war verschwunden, und sie war sich mit einem Mal nicht mehr sicher, ob sie ihn überhaupt gesehen hatte. Womöglich hatten ihre überreizten Nerven ihr einen Streich
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