Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
gespielt. Sie klemmte sich den Bericht fester unter den Arm und ging schnell zum Besprechungsraum.
Die »Moko Toni« war in eine hitzige Diskussion vertieft, als Lydia eintrat.
»Hey, was ist denn hier los?«, rief sie in das Durcheinander und war überrascht über die Wirkung ihrer Worte. Die Kollegen verstummten augenblicklich und sahen sie an wie Schulkinder, die etwas ausgefressen hatten. Rasch wandte sie sich an Köster. »Irgendetwas, das ich wissen sollte?«
»Eher ein angeregter Austausch über unterschiedliche sexuelle Neigungen.« Er lächelte.
Sie zog die Augenbrauen hoch.
»Es ging darum, ob Exhibitionismus perverser ist als Sadomaso-Spielchen.« Er zuckte mit den Schultern und blickte hilfesuchend in die Runde.
»Das ist für uns vollkommen irrelevant«, erklärte Lydia und knallte den Obduktionsbericht auf den Tisch. »Uns interessiert allein, ob es freiwillig geschieht. Solange alle Beteiligten damit einverstanden sind, können sie machen, was sie wollen. Es geht uns nichts an.« Sie setzte sich. »Womit wir beim Thema wären«, fügte sie sarkastisch hinzu. »Denn was auch immer Antonia Bruckmann über sich ergehen lassen musste, es war bestimmt nicht freiwillig.«
Betretenes Schweigen breitete sich aus. Lydia spürte Salomons aufmerksamen Blick, doch sie sah nicht zu ihm hinüber. Stattdessen fixierte sie Ingo Wirtz und Heinz Schröder. »Da offenbar alle bereits auf das Thema eingestimmt sind, könnt ihr zwei ja anfangen. Was habt ihr herausgefunden?«
Ingo Wirtz senkte den Kopf über seine Notizen. Lydia durchzuckte der Gedanke, dass seine Schüchternheit vielleicht kalkuliert war. Sie hatte durchaus etwas Anziehendes, wenn man auf den Typ liebenswerter Trottel stand, so wie Hugh Grant in dem Film Notting Hill .
»Also«, begann Ingo Wirtz zögernd, »Menschen mit nekrophilen Neigungen werden normalerweise nicht gewalttätig. Bis auf einige Ausnahmen natürlich. Es gab ein paar Serienkiller – leider nicht nur in den USA, sondern auch hier bei uns, die ihre Karriere« – er malte mit den Zeigefingern Anführungszeichen in die Luft – »mit Leichenschändung begannen. Ed Gein, zum Beispiel, hat zahlreiche Frauenleichen ausgegraben, bevor er seinen ersten Mord beging. Und der sogenannte Rhein-Ruhr-Ripper Frank Gust ist in Leichenschauhäuser eingebrochen, um sich an den Toten zu vergehen. Solche Fälle sind jedoch extrem selten.« Wirtz holte tief Luft. »Beim Exhibitionismus liegt die Sache ähnlich. Solche Täter ziehen ihre sexuelle Befriedigung aus dem Schrecken und der Scham der Personen, vor denen sie sich entblößen. Natürlich ist auch das eine Form von Missbrauch, aber zu körperlicher Gewalt kommt es bei ihnen eigentlich nie.«
»Nie oder eigentlich nie?«, hakte Schmiedel nach.
Wirtz blätterte in seinen Unterlagen. »Die Experten sind alle sehr vorsichtig. Grundsätzlich heißt es: Es gibt nichts, was es nicht gibt. Alles ist möglich. Aber die Wahrscheinlichkeit ist sehr gering. Hier steht: ›Manifeste Aggressionen sind selten und atypisch.‹ Es sind so gut wie keine solchen Fälle bekannt.«
»Bei den Pädophilen sieht das natürlich ganz anders aus.« Jetzt übernahm Schröder das Wort. »Die tun alles Vorstellbare und Unvorstellbare mit den Kindern, die ihnen in die Hände fallen. Ich bin mal die Kartei der bekannten Täter durchgegangen, die theoretisch im Fall Antonia Bruckmann infrage kämen. Leider bin ich nicht wirklich fündig geworden. Entweder stimmen die Neigungen nicht.« Er verzog das Gesicht zu einem zynischen Grinsen. »Oder die Kerle sind gerade auf Staatskosten in Vollpension. Bleiben zwei Möglichkeiten: ein noch nicht vorbestrafter unbekannter Täter oder der Vater.«
»Könnte es sich um eine Verdeckungstat handeln?«, fragte Lydia.
»Du meinst, der Vater hat die Tochter über einen längeren Zeitraum missbraucht, und als der Missbrauch drohte aufzufliegen, brachte er sie um? Und vertuschte sein Vergehen mit einer postmortalen Vergewaltigung?«
»Ja. Und zwar im Affekt. Wer auch immer diese Tat begangen hat, hat sie nicht geplant.«
Schröder wiegte den Kopf hin und her. »Wie stellst du dir das vor?«
Lydia warf Salomon einen raschen Blick zu. Sie hatten diese Theorie gemeinsam entwickelt. Er nickte kaum merklich.
»Bruckmann ist allein mit seiner Tochter zu Hause«, begann sie. »Er will sich an ihr vergehen. Es ist nicht das erste Mal, aber diesmal wehrt sich Toni. Keine Ahnung, warum. Vielleicht weil er etwas Neues von ihr verlangt.
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