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Die Weite fühlen - Solèr, P: Weite fühlen

Die Weite fühlen - Solèr, P: Weite fühlen

Titel: Die Weite fühlen - Solèr, P: Weite fühlen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pia Solèr
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noch. Nun die Krücken befreien, ich kriege ohne Messer das Netz frei, aber ein kleines Stück Krücke bricht ab. Einen Moment lang ist sie frei, verfängt sich aber wieder, diesmal am Bein. Oh nein, nochmals das Netz fassen und sie zu mir ziehen, losbinden. Sie stürzt, und die Krücken verfangen sich in meiner Hose. Sie sind messerscharf und, kaum zu glauben, kein Kratzer, kein Riss in der Hose. Die Gemse steht auf, schüttelt den Kopf, bleibt kurz stehen, gibt einen Pfeif, und weg ist sie. Ach, ich bin so glücklich und auch benommen. Es ging alles so schnell und brauchte viel Kraft. Das Netz wieder aufrichten, es mit dem Seil flicken und mich beeilen, dass ich vor dem Eindunkeln bei der Hütte ankomme.
    November, es schneielet. Ich füttere immer noch die Schafe vom Nachbarsbauern. Gestern war Stall ausmisten angesagt. Eine harte Arbeit, bin froh, dass ich es gepackt habe. Dann muss ich meine Ziegen und drei Hunde versorgen. Mit Tieren gibt es keine freien Tage.
    Oft werde ich um Vertretungen angefragt. Wann habe ich das letzte Mal Ferien gehabt? Ich weiss es ehrlich nicht. Es mag scheinen, als hätte ich wenig zu tun, da ich viele verschiedene Sachen mache und nirgends fest angestellt bin. Das zählt nicht als Arbeit. Dann helfe ich gerne und höre gerne zu, auch das braucht viel Zeit, die Belohnung ist karg in Sachen Geld, aber das ist nicht so wichtig.
    Vor ein paar Tagen war der Pfarrer bei mir. Wenn er in Cons die Messe liest, kriegt er ein Frühstück und macht dann die Runde von Nachbar zu Nachbar. Er fragte mich, was ich denn so arbeite. Ich erzählte ein wenig, und er machte sich die grössten Sorgen, wie ich denn die Rechnungen bezahlen würde. Nach meinem Seelenheil hat er nicht gefragt. Ich musste fast lachen und sagte, ich würde halt bescheiden leben, und es würde schon reichen. Er glaubte mir nicht.
    Die Schafe blöken, sie haben wohl Hunger. Das Brot im Ofen braucht aber noch ein paar Minuten. Auch Treuia ist unruhig. Ob sie Heimweh nach Orsus hat? Ist ihre Läufigkeit auf dem Höhepunkt? Ich war nicht beim Tierarzt, sondern habe eine Hose für sie gebastelt. Hoffentlich ziehe ich sie ihr rechtzeitig an. Sieht lustig aus.
    Am Nachbarshaus hängen die Eiszapfen am Dach. Es liegt so nah, dass die Nachbarn mir in die Küche schauen können und ich in ihr Schlafzimmer. Aber ich bin ja nur im Winter hier, und dann haben sie die Fensterläden zu.
    Ich liebe Kinder, habe selber aber keine. Alles hat seinen Preis, Kinder zu haben und auch keine zu haben. Kinder sind noch so rein und spontan, sie lassen sich nicht von der Schwere des Lebens erdrücken. Sie sind.
    Die Eiszapfen glitzern im Morgenlicht, die Kälte ist eingebrochen. In einem Stall war das Wasser heute gefroren. Nun muss ich zum Bauer gehen, er hat ein Gerät, um es zu tauen. Ich sollte auch für ihn einkaufen.
    Ich weiss: Um nicht enttäuscht zu werden, sollte ich nichts erwarten. Aber wie steht es mit den Erwartungen, die in mich gesetzt werden? Kann ich sie erfüllen, ohne mich selber zu verraten? Ich muss Acht geben, dass ich bei mir bleibe, dass mein Leben nicht von den Erwartungen der anderen bestimmt wird. Schreiben ist eine einsame Tätigkeit. Ruhe und Konzentration sind wichtig. Klare Gedanken und Inspiration.
    Kräuter von der Alp im Tee. Ich mag den so gerne, eine Nachbarin hatte Angst, dass ich den Pfarrer damit vergiften könnte. Nein, so schlimm bin ich nicht.
    Heute bläst der Nordwind. Der Weg zu den Ziegen war zum Teil nicht sichtbar, die Schneeverwehungen haben ihn zugedeckt. Eine Nachbarin hat mir den Stall verpachtet. Das Heu zahle ich mit Arbeit ab, und etwas kaufe ich dazu, da ich selber ja nicht heue. Der Stall liegt oberhalb von Cons, etwa 50 Meter daneben steht ein Brunnen. Ein schöner Aussichtspunkt. Letztes Jahr habe ich von einem pensionierten Bauer ein paar Ziegen übernommen, wunderbare Milchziegen, und es ist mir wichtig, dass dieser Clan weitergezogen wird. Im Moment sind es acht Ziegen. Eine gehört dem Bauer, damit er auch noch eine Freude hat. Er hilft mir aus, wenn ich in Zeitnot komme, die Ziegen hat er mir praktisch geschenkt. Auch ihm ist es wichtig, dass die Ziegen nicht aussterben und dass sie mit Liebe versorgt werden.
    Letztes Jahr, als ein Meter Schnee den Weg bedeckte, hatte ich noch nicht genug Heu im Stall. Ich musste die kleinen Ballen mit dem Schlitten hinaufziehen. Manchmal half mir der Bauer. An einem Tag, ich war alleine, kamen zwei Touristen den Hundeweg hinab. Sie zückten den

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