Die Weite fühlen - Solèr, P: Weite fühlen
aber auch geniessen. Oder ein gutes Essen in einem noblen Restaurant. Es ist nicht so, dass ich dieses Leben nicht kennen würde. Ich mag es sogar ab und zu.
Die Ziegen. Ein grosses Thema. Mit ihnen hat meine Alpzeit angefangen. Während neun Sommer waren sie meine Freunde und sind es immer noch. Inzwischen besitze ich selber welche.
Früher hatte jede Familie ein paar Ziegen. Heute sind es nur noch wenige. Ihre Eigenwilligkeit strapaziert oft die Freundschaft der Nachbarn. Ziegen sind neugierig, sie mögen Blumen, auch um die Häuser oder in Gärten. Das macht sie mir noch sympathischer, sie lassen sich nicht in die Enge treiben. Und sie rentieren nicht. Kanton und Staat unterstützen vor allem die Grossen, alles muss gross sein. Die Vielfalt geht so zugrunde. Auch das ist eine merkwürdige Entwicklung. Dabei sind die Produkte der Ziege sehr gesund. Für mich ist es die Freude an der Ziege, die mich weitermachen lässt, nicht das Geld. Ziegen sind zudem auch sehr nützlich. Sie halten Sträucher zurück und überweiden nicht. Sie sind aussergewöhnliche Individuen. Sie können so lieb sein und dich kurz darauf total ärgern. Sie testen den Hirten. Sie bringen ihn an Grenzen, psychisch und körperlich. Sie fordern heraus. Ich liebe sie, aber ich habe sie auch schon gehasst.
Mein Vater hatte eine ausserordentlich spezielle Ziege. Sie hiess Linda. Zum Glück hatte sie keine Hörner, denn sie war auch gefährlich und lockte die Herde in verbotene Gebiete. Im Winter akzeptierte sie nur meinen Vater, er war ihr Führer, mich schupste sie davon. Im Sommer waren wir dann dicke Freundinnen. Besucher mochten die Linda nicht, weil sie unnahbar und unberechenbar war. Einmal lief ich durch die Stauden hoch, um ein paar zurückgebliebene Ziegen zu den anderen zu bringen, die oben warteten. Meine Freunde nahmen den normalen Weg und kamen zum Stein, bei dem die Ziegen warteten und wo auch Linda war. Sie meckerte die Besucher mehrmals an und lief dann in meine Richtung, obwohl sie mich nicht hatte sehen können.
Einmal fehlten mir ein paar Ziegen. Als ich Linda fragte, wo sie sind, wackelte sie mit dem rechten Ohr. Also ging ich rechts. Und wirklich, sie waren da.
Mit einem Freund, der seit einem Unfall im Rollstuhl sitzt, ging ich in einen Parfumladen. Als wir hinein kamen, wurde es mir fast schlecht von den vielen intensiven Düften. Er wollte einer Freundin auf Weihnachten ein Parfum schenken. Wir wurden bald fündig, und er meinte, ich solle meinem Freund doch auch ein Parfum schenken. Er fragte mich, was er denn so brauche. »Keine Ahnung, am liebsten mag ich, wenn er nach Harz riecht.« Die Antwort bescherte ihm einen Lachkrampf, und die künstlichen Düfte blieben im Regal.
In den Hochtälern leben immer weniger Menschen. Die Jungen ziehen weg, und die Kinder bleiben aus. So stehen immer mehr Häuser leer. Sie werden zum Verkauf oder zur Miete angeboten. Immer mehr Feriengäste und Wochenendler kommen ins Tal. Es gibt die, die unsere Landschaft und Kultur lieben. Aber es gibt auch andere. Solche, die Tierkacke verabscheuen oder die nicht schlafen können, weil ein Hahn kräht oder die Kirchenuhr die Stunden läutet. Der Hahn war immer schon da, warum kommen sie denn in ein Bauerndorf?
Ein alter Mann stand oft an der Strasse und beobachtete die Wanderer, die durch Cons liefen. Manchmal ergaben sich Gespräche. Einmal sagte ihm einer: »Ihr seid hier ein wenig hinter dem Mond!« Er hielt inne und antwortete: »Ja, wo ist denn das? Es könnte auch sein, dass Sie hinter dem Mond sind!«
Es braucht nicht viel. Wichtig ist, dass das Richtige im richtigen Moment geschieht.
Obwohl ich oft alleine zuhinterst im Tal wohne, kenne ich die verschiedensten Menschen. Viele meiner Freunde wohnen im Unterland oder jenseits der Schweizer Grenze. Auch wenn wir uns sehr selten sehen, ist die Verbindung da. Es braucht kein ständiges Getratsche, um einander nahe zu sein. Wenn Nähe da ist, sind Zeit und Distanz unbedeutend.
In meiner Kindheit waren Kühe, Ziegen und Schafe im Herbst überall auf der Wiese zerstreut und durchmischt. Es war so ein schönes Bild, so friedlich. Inzwischen sind überall Zäune und nochmals Zäune, jeder zäumt seine Tiere ein, separiert sie voneinander. Tiere kommen gut miteinander aus, die Menschen tun sich da schwerer. Mit dem Kraftfutter übertreiben wir immer mehr und nochmals mehr. Es macht die Tiere krank. Und wir Menschen werden es auch.
Ich bin lieber leicht wie ein Schmetterling. Leicht wie der
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