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Die Weite fühlen - Solèr, P: Weite fühlen

Die Weite fühlen - Solèr, P: Weite fühlen

Titel: Die Weite fühlen - Solèr, P: Weite fühlen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pia Solèr
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wach, Selina lag neben mir im Bett, hielt mich fest. Mara hatte ebenfalls Angst und wollte ins Bett steigen. Nein, das geht nun wirklich nicht. Selina fragte: »Wann hört das denn endlich auf?« – »Bald.« Da es zwei Uhr morgens war, hatten wir schon Geburtstag. Ich sagte ihr: »Freust du dich denn nicht, dass der Heilige Petrus ein Feuerwerk für uns veranstaltet?« Sie fand es gar nicht lustig. Ich fügte hinzu: »Wir haben ja einen Blitzableiter, die Hauswurz.« Erst als das Gewitter vorüber war, beruhigte sie sich.
    Am nächsten Tag sagte ich zu ihr: »Wenn du solche Angst vor Gewitter hast, wirst du kaum alleine auf eine Alp gehen.« – »Doch«, meinte sie, aber sie richte dann einen richtigen Blitzableiter ein, nicht nur eine Blume. Später kam mein Bruder zu uns, und sie lief mit ihm nach Hause. Es war leer ohne sie, da oben wieder alleine.
    Seit etwa einer Woche habe ich keinen Natelempfang, komisch. Sind wohl Nachrichten irgendwo auf dem Weg? Ich sollte eine verschicken, aber ich komme einfach nicht durch.
    Schon als Kind war ich abenteuerfreudig. Arno war mein Nachbar, er war ein Jahr jünger. Wir unternahmen manchmal Wanderungen ganz alleine. Einmal, es hatte Schnee, liefen wir zu einem kleinen See unterhalb Vrin-dado. Wir gingen noch weiter und kamen zu einem kleinen Hof. Dort entschieden wir uns, die Wiesen hochzusteigen und auf der Hauptstrasse zurückzulaufen. Als ich nach Hause kam, war Aufruhr. Meine Mutter war in Sorge und hatte meinen Bruder losgeschickt, um uns zu suchen. Nun war er nicht daheim, und es wurde langsam dunkel. Endlich kam er an. Seine Finger waren durchfroren, und er war wütend auf seine kleine Schwester. Er hatte eine Route genommen, die steil und vereist war. Noch heute hat er schlechte Erinnerungen an diese Episode. Sonntag. Bin gerade zurück vom Stall. Das Feuer brennt richtig, und das Haus wurde doch noch warm bis zum Abend. Die Arbeit im Laden fällt nun weg. Sie hat mir Spass gemacht.
    Die Leute sind skeptisch. Pia schreibt ein Buch? Was wird sie wohl schreiben? Einmal hatte sie einen Leserbrief in der Zeitung. Der war gar nicht nett. Nun, ob es ein Buch gibt, steht noch in den Sternen. Auf jeden Fall habe ich Freude an den Seiten, die vollgekritzelt vor mir liegen. Nun muss ich sie noch kopieren und verschicken. Schreiben kann sehr wohltuend sein.
    Jetzt riecht Treuia wie ein ausgewachsener Hund. Als Welpe riechen sie anders, so wie die Babys. Erstaunlich, Treuia geht gerne zum Tierarzt.
    Und jetzt, wenn ich die Seiten abliefere? Könnte es sein, dass eine Leere entsteht? Nein, ich kann ja Tagebuch schreiben. Was passiert mit den Kopien? Der Zweifel, jetzt hat er mich doch noch eingeholt.

Nachwort
Begegnung in Vanescha
    Mitte Oktober 2009 führte mich der Zufall nach Vanescha, in einen Weiler mit Kapelle auf 1780 Metern. Um diese Jahreszeit war hier niemand mehr unterwegs. Aus der absoluten Stille heraus rannten plötzlich zwei Hunde bellend auf mich zu. Oben am Hang stand eine Frau. Lächelnd und mit ruhigem Schritt kam sie in meine Richtung. Im Gespräch, das sich nun entspann, erfuhr ich, dass sie den Sommer über auf der weiter oben gelegenen Alp Schafe gehütet hatte, dass sie seit fast einem halbem Jahr zum grössten Teil in der Gesellschaft nur von Tieren war und die letzten Tage in der Abgeschiedenheit von Vanescha verbrachte. Spätestens mit dem ersten Schnee würde sie in ihr Haus nach Vrin zurückkehren. Vereinsamt wirkte sie nicht. Im Gegenteil: Sie strahlte eine beseelte Heiterkeit aus.
    Pia lud mich zum Kaffee ein. Das eher düstere Interieur der rund 300 Jahre alten Hütte wirkte wie aus einer anderen Welt: Ein Bett, ein Tisch, drei Stühle. Einzig ein paar Bücher, die über der Türe zwischen dem Wohnraum und der Küche standen, liessen einen Hinweis auf das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts erkennen. Sogar die Zigaretten, die sie selber drehte und deren Rauch den niedrigen Raum erfüllten, fügten sich in das für die Städterin faszinierende Bild.
    Ich wollte es wieder sehen, festhalten. Und Pia war offen für meinen Vorschlag, eine Reportage über sie zu schreiben.
    Im Sommer darauf besuchte ich sie zusammen mit einem Fotografen auf der Alp Scharboda. Mehrere Tage nachdem der Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen war, gelangte er auch zu Pia auf die Alp. Unser langes Gespräch vor der Hütte, bei dem wir in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder auf den Drang nach Freiheit und das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu sprechen

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