Die Welfenkaiserin
mich schon dein ganzes Leben lang, und jetzt, da du kein Kind mehr bist, habe ich entdeckt, dass ich diese Liebe genauso erwidere.«
Auf dem Ritt nach Prüm hatte sie die Augen von dem erblühten jungen Mann nicht lassen können. Sie hatte ihn berührt, sooft es ihr möglich war und sich über dieses Bedürfnis so lange gewundert, bis ihr endlich aufgegangen war, dass sie ihrem einstigen Edelknecht keine mütterlichen Gefühle mehr entgegenbrachte. Unnatürlich und unanständig waren ihr die Gedanken erschienen, die unkontrolliert in ihr aufstiegen; den Wunsch, in Ruadberns Armen zu liegen, seine vollen Lippen zu küssen und mit ihm zu verschmelzen. Mit der wütenden Begierde, die einst Bernhard in ihr geweckt hatte, war diese neue Leidenschaft jedoch nicht zu vergleichen. Diesmal ließ kein gefahrvoller Gang aufs dünne Eis sie begierig erschauern. Ruadbern ließ wohlige Erregung in ihr aufkommen, der warme Blick aus seinen Augen schürte ihren Herzenswunsch nach der Vertrautheit einer körperlichen Nähe mit wahrhaftiger Erfüllung. Sie hatte versucht, das Lodern in ihrem Herzen einzudämmen, aber die Sehnsucht brannte weiter.
»Der Kaiser liebt dich auch«, sagte er leise.
»Anders«, flüsterte sie, »ganz anders«, und während er langsam in die Welt der Träume hinüberdämmerte, erzählte sie ihm alles.
Als er nach einem langen erfrischenden Schlaf erwachte, lag Judith neben ihm und streichelte sein Gesicht.
»Du bist so schön, mein geliebter Ruadbern«, flüsterte sie, und als sie ihm endlich zeigte, wie sich Mann und Frau liebten, war es in dieser Hinsicht auch für sie das erste Mal.
Lothar begriff, dass sein Bruder Ludo plante, gegen ihn zu Felde zu ziehen und verabredete sich mit ihm in Mainz. Das Treffen, das Mitte Dezember stattfand, endete mit feindseligen Äußerungen Ludos, der sich anschließend mit seinem Bruder Pippin in Verbindung setzte. Beide beschlossen, den Vater gewaltsam zu befreien, was ihnen angesichts der ludwigfreundlichen Stimmung in Aachen ein Leichtes erschien. Doch Lothars Späher waren nicht müßig. Sie rieten Lothar, Anfang Januar eine dritte Gesandtschaft Ludos an Ludwig zuzulassen, um Näheres über die Pläne der beiden jüngeren Söhne zu erfahren. Aber sie kannten die Zeichen nicht, die schon beim ersten Aufstand zwischen Ludwig und seinen Getreuen abgesprochen worden waren, und so entgingen ihnen die Verhandlungen, die vor ihrer Nase in Geheimsprache geführt wurden. Ludwig sicherte Pippin und Ludo alles zu, was sie wünschten, wenn sie ihn nur endlich befreiten. Lothar ahnte, dass er wieder einmal überlistet worden war, ließ seinen Vater aus der Zelle holen und schleppte ihn mit nach Saint Denis. In Neustrien war er sich größerer Unterstützung gewiss, doch die Truppen seiner Brüder warteten bereits auf ihn. Noch einmal wurde das Mittel der Verhandlung bemüht. Pippin und Ludo verlangten von Lothar, den rechtmäßigen Kaiser freizulassen. Lothar wich aus und berief sich auf die Bischöfe, die Ludwig zu Gefangenschaft verurteilt hätten.
»Niemand wünscht mehr das Wohl unseres Vaters, niemand bedauert mehr sein Missgeschick!«, erklärte er. Doch er war in die Enge getrieben. Ein Großteil seiner Getreuen hatte sich von ihm losgesagt, weil sie die Anmaßungen des Grafen von Tours nicht mehr ertrugen.
Im Februar sah sich Lothar so bedrängt, dass er mit den wenigen ihm verbliebenen Vasallen am letzten Sonnabend des Monats die Flucht ergriff. Erzbischof Ebbo von Reims, der von Lothar als Lohn für seinen Auftritt bei der Bußhandlung Ludwigs die Abtei Saint Medard erhalten hatte, ließ ebenfalls eilig ein Pferd satteln. Beim Aufsteigen überkam ihn jedoch ein so heftiger Gichtanfall, dass er aufgeben musste und Lothar nicht nach Burgund folgen konnte.
Am Tag darauf, einem Sonntag, beeilten sich die in Saint Denis zurückgebliebenen Bischöfe, ihre schweigende Zustimmung bei Ludwigs Bußgang wiedergutzumachen. Sie legten ihm vor dem Altar die königlichen Gewänder an, nahmen ihn feierlich wieder in die Kirche auf, schmückten ihn mit Krone und Waffen und erklärten den Vorgang des vergangenen Jahres für ungültig.
Als erste Amtshandlung ließ Kaiser Ludwig seinen Milchbruder, Ebbo von Reims, festnehmen. Er schickte ihn zu seinem Freund, dem Abt Rabanus Maurus, nach Fulda und forderte diesen auf, den Amtsbruder in strenge Haft zu nehmen.
Und dann, endlich, endlich, konnte sich Ludwig der Angelegenheit widmen, die ihm am wichtigsten war – seine Familie
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