Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Welfenkaiserin

Titel: Die Welfenkaiserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
Vom Netzwerk:
schrie laut schluchzend: »Wer hat mir meinen Kopf gestohlen?«
    Irmingard war aufgestanden und nahm ihr den Schürhaken vorsichtig aus der Hand. »Das ist schlimm. Aber deine Haare werden schon wieder nachwachsen«, sagte sie begütigend. Aber nicht bis zur Brautschau, dachte sie betroffen. Wie sollte sie Judith jetzt mit Bernhard oder einem anderen von Ludwigs Vasallen verheiraten können? Wer würde schon eine Frau ohne Haare haben wollen?
    Als Strafe für die Eigenwilligkeit, sich das Haar abzuschneiden, und den sorglosen Umgang mit dem kostbaren Pergament wurde sie von der Äbtissin auch noch zum Stallausmisten ins angrenzende Gebäude geschickt. Zu niedergeschmettert, um sich zu verteidigen, warf sich Judith ein dunkles Tuch über den Kopf und verließ unter dem hämischen Gelächter der meisten anderen das Haus. Einen Augenblick lang blieb sie vor der offenen Stalltür stehen, hinter der Schafe blökten, Lieferanten des Pergaments.
    Sie sammelte ihre Kräfte. Ich gehöre nicht in den Stall, dachte Judith mit neu aufkommender Wut. Ich gehöre ins Palatium! Auch wenn mich der Kaiser jetzt bestimmt nicht heiraten wird. Aber ich muss einfach noch einmal hinein. Nur, um zu sehen, ob alles noch so ist wie früher. Ich habe Heimweh. Krachend warf sie die Stalltür wieder zu und machte sich auf den Weg zu den Pfalzgebäuden.
    Sie versuchte gar nicht erst, sich am helllichten Tag an den Wachen vorbei durch den Haupteingang des Palatiums zu schmuggeln, sondern betrat stattdessen die Pfalzkapelle. Hier schien alles unverändert. Von außen hatte sie bereits festgestellt, dass der ein Jahr zuvor zusammengestürzte zweistöckige Gang, der von der Kirche unmittelbar ins Palatium führte, wieder aufgebaut worden war. Der obere Gang war dem Hofstaat vorbehalten, der über ihn direkt in die kaiserlichen Gemächer gelangen konnte. Genau dorthin wollte Judith.
    Sie sah zwei Möglichkeiten, die Wachen zu überlisten. Erwägenswert war eine mit Frechheit gepaarte Autorität: Wie könnt ihr es wagen, mir den Zugang zu verweigern! Ich gehöre zum Haushalt des Kaisers! Wollt ihr ihn etwa verärgern? Sie war ziemlich sicher, mit solcher Dreistigkeit Erfolg zu haben.
    Es erschien ihr jedoch reizvoller, die andere Variante zu erproben, gewissermaßen die zauberische, die Weiterentwicklung von Gerswinds Naturmagie, die sie im Einerlei ihres Altdorfer Alltags mehrfach erfolgreich ausgeführt hatte. Und die ihr verdeutlicht hatte, dass bestimmte Wirkungen ganz ohne Zaubersprüche oder magisches Beiwerk zu erzielen waren. Judith hatte entdeckt, dass jenes, was andere für pure Magie hielten, in vielen Fällen, vielleicht sogar immer, ohne äußere Hilfsmittel auskam. Sie vermutete, dass die Anlage dazu in jeder Menschenseele verankert war. Das Gelingen, so meinte sie, erforderte einen festen Willen, die Fähigkeit, sich überall einfügen zu können, klare Gedanken und die Gewissheit, dass Scheitern ausgeschlossen war; also gewissermaßen den Glauben, der Berge versetzen konnte. Mit heidnischem Hexenwerk hatte das nichts zu tun, wie die Heilige Schrift bewies.
    Eine Ahnung von derartigem Wissen hatte Judith bereits als kleines Mädchen beschlichen, kurz nachdem sie an den Karlshof in Aachen unter Gerswinds Obhut gekommen war. Im Wald war die Tante zu einem Baum unter Bäumen geworden und hatte Judith aufgefordert, es ihr nachzutun. Judith hatte genau hingesehen, aber, obwohl Gerswind verschwunden war, keinen zusätzlichen Baum entdecken können. Wo also steckte die Tante?
    Als Judith Jahre später in einer alten Schrift las, das Auge wäre das trügerischste aller Organe, überlegte sie, ob hinter dieser Verwandlung, die sie inzwischen trefflich beherrschte, nicht etwas ganz anderes als Zauberei stecken mochte. Sie erinnerte sich an eine verzweifelte Suche nach ihrer Lieblingsspange. Sie hatte Truhen und Kästchen durchwühlt, Fächer geleert, war ihre Kleidung durchgegangen, hatte unter Bänken und Hockern nachgesehen und schließlich den Gegenstand als für immer verloren aufgegeben. Und plötzlich sah sie die silberne Spange mitten auf ihrem Schönheitstisch prangen. Niemand hatte den Raum betreten; der Gegenstand musste also die ganze Zeit dort gelegen haben, obwohl Judith doch den Tisch gründlich nach ihm abgesucht hatte. Im Nachhinein hielt sie es für unvorstellbar, dieses nicht gerade kleine glänzende Schmuckstück übersehen zu haben, aber genau das war geschehen. Ihre Augen hatten sie während der langen Suche getrogen. Wenn

Weitere Kostenlose Bücher