Die Welfenkaiserin
an ihrem Psalterium zupfte und neue Melodien erfand oder sich auf eine alte Schrift konzentrieren wollte. Damals hätte sie sich gewiss nicht vorstellen können, dass sie sich einmal nach diesem Krach zurücksehnen würde. Doch das tat sie jetzt. Die Stille kam ihr bedrohlich vor, ließ alles andersartig und seltsam beziehungslos erscheinen. War das wirklich der Gang, durch den sie selbst so oft unbekümmert gestürmt war? War sie hier jemals Zuhause gewesen? Sie vermeinte, ihr eigenes Herzklopfen zu hören. Es gibt hier eben keine kleinen Kinder mehr, dachte sie, das ist alles.
Knarrend öffnete sich eine Tür. Judith drückte sich an die Wand, zog ihr Tuch tiefer ins Gesicht, stellte sich vor, es wäre der Schleier der Unsichtbarkeit, und atmete flach.
Zwei etwa achtjährige Knaben traten, ernst miteinander redend, auf den Gang. Das größere Kind verabschiedete sich und hüpfte an Judith vorbei auf die Treppe zu. Doch der andere Knabe blieb stehen. Seine dunkelbraunen Augen wurden eine Spur größer, als er Judith anblickte und fragend flüsterte: »Judi?«
Judith antwortete nicht, sondern wandte sich um und lief eiligen Schrittes dem anderen Kind nach. »Judi, Judi, Judi«, ertönte es hinter ihr. »Du bist hier! Komm zurück! Ich will mit dir reden!«
Eilig verließ sie das Palatium durch den Haupteingang, gab sich allerdings keine Mühe mehr, unsichtbar zu sein. Die Wachen achteten nur auf die Menschen, die hineinwollten, hinaus durfte jeder.
In ihrem ganzen Leben hatte es nur einen Menschen gegeben, der sie Judi genannt hatte. Und nur daran hatte sie ihn erkannt: Ruadbern, Hruodhaids Sohn. Der vorwitzige Knabe, der ihr einst Kämme, Fibeln und Spangen gestohlen hatte. Ein kleines Kind, das ich selbst fast vergessen habe, ist das Einzige, was von meinem alten Zuhause übrig geblieben ist, dachte sie bekümmert, als sie den Weg zur Brautschule einschlug. Im Palatium ist es finster und still geworden. Gerswind hat recht. Nichts ist mehr so, wie es war. Mein Zuhause gibt es nicht mehr.
Die Vorstellung, Kaiser Ludwig zu heiraten, hatte entschieden an Reiz verloren.
Aus ganz anderen Gründen bereitete Gerswind die Brautschau Unbehagen. Bangen Herzens erwartete sie im fernen Prüm die Meldung von der bevorstehenden Hochzeit. Inzwischen befürchtete sie, überstürzt und falsch gehandelt zu haben. Sie warf sich vor, durch den Hass auf Ludwig und das Sehnen nach Rache selbst zu einer bösen Tat verleitet worden zu sein. Eine Tat, die bei der Übergabe des Zauberrings aus einem Satz bestand, aus jenem Satz, mit dem sie den Ring Judith geweiht hatte: »Der Kaiser soll Judith, die neue Herrin dieses Rings, allzeit heftig begehren, sie aber niemals besitzen dürfen.«
Wenn der Fluch seine Wirkung entfaltete, und daran zweifelte Gerswind keinen Augenblick, könnte das für Judith böse Folgen zeitigen. Sie musste unbedingt dafür sorgen, dass Judith den Ring rechtzeitig loswurde.
3
Aus den Chroniken der Astronoma
Im Jahr des Herrn 819
An fast allen Grenzen herrscht Ruhe. Die einst so widerspenstigen Häupter der Briten, der Basken und der Abodriten haben sich vor dem Kaiser gebeugt. In den ersten Tagen des Jahres muss sich Kaiser Ludwig nur um die Nordgrenze des Reiches sorgen, da trotz der kühlen Witterung die schwarzen Meeresrosse der Nordmannen den Küsten wieder gefährlich nahe rudern. Er setzt alle Hoffnung auf seinen Vasallen Harald Klak, den früheren dänischen König. Der ist von seinem Bruder und einem Vetter, dem Sohn des Wikingerkönigs Göttrik, fünf Jahre zuvor vertrieben worden. Als Harald Ludwig um Hilfe bat, sah sich dieser damals zwar außerstande, ihm militärisch beizustehen, aber er schenkte ihm das südlich von Haithabu gelegene fränkische Gebiet. Dahinter stand der Gedanke, dass die räuberischen Nordmannen nicht einen der Ihren überfallen würden und die Nordgrenze somit geschützt sei. Doch Harald Klak hegt jetzt neue Hoffnung auf den dänischen Thron, da sich sein Bruder und die Söhne Göttriks gegenseitig bekriegen. Er will Ludwig um militärische Hilfe angehen. Kurz vor der Brautschau des Kaisers reitet Harald in Aachen ein. Er möchte die winterliche Witterung zu einem Überraschungsangriff nutzen und hat es sehr eilig.
Im Jahr 818
»Es ist eines christlichen Kaisers unwürdig, einem Heiden zur Wiedererlangung seines Throns zu verhelfen«, geiferte Erzbischof Agobard von Lyon. Als hätte er mit dem giftigen Blick, den er aus seinen schwarzen Rosinenaugen dem vertriebenen
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