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Die Welfenkaiserin

Titel: Die Welfenkaiserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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sich schon ein unbeseelter Gegenstand unsichtbar machen konnte, sollte es doch nur logisch sein, dass ein denkender Mensch so etwas bewusst herbeiführen könnte, dachte sie und spann den Gedanken weiter. Könnte man vielleicht gar in den trügerischen Organen der anderen unsichtbar werden, wenn man dies mit aller Macht wünschte und durch die Kraft der eigenen Gedanken an andere weitergab? Wurden die berühmten biblischen Berge wirklich versetzt, oder kam es den anderen nur so vor, weil sie keine Berge mehr sahen? Reichte eine Beherrschung der eigenen Gedanken wirklich aus, um die der anderen zu beeinflussen und ihnen weiszumachen, man wäre gar nicht da? Gerswind hatte ihre Metamorphosen stets als ein Zusammenspiel mit anderen Lebewesen, mit Bäumen, Pflanzen und Gräsern bezeichnet und sie nur für möglich gehalten, wenn einem Gott, die Heiligen, die Ahnen und die anderen Götter gnädig gesinnt waren. Dass man sich mit seiner Umgebung im Einklang zu fühlen hatte, um in ihr aufzugehen, leuchtete Judith sofort ein. Wenn aber die Unsichtbarkeit nur in den Augen der anderen bestand, könnte man ja auch zwischen Leblosem verschwinden, also für andere gewissermaßen zu einer Truhe unter Truhen, einem Fackelhalter unter Fackelhaltern oder einer Pergamentrolle unter Pergamentrollen werden. Judith ging den logischen Schritt weiter und verzichtete auf die Verwendung von Lebewesen und Dingen. Doch alle Versuche zur gegenstandslosen Unsichtbarkeitsmachung scheiterten. Bis ihr die Tarnkappe aus den Legenden einfiel und sie für sich den verborgenen Schleier der Unsichtbarkeit erfand. Ihr fiel das kleine Kind ein, das die Hände vor die Augen schlägt und glaubt, für andere unsichtbar zu sein, weil es selbst nichts mehr sieht. Das kleine Kind, dachte sie, ahnt mehr von der Wahrheit als so mancher große Mensch. Diesen Kniff erprobte sie zum ersten Mal auf dem Gänsemarkt in Ravensburg. Und, tatsächlich, es klappte. Ein Bauer lief direkt in sie hinein.
    Und diesmal beabsichtigte sie, den Wachen vor dem Portal zum Holzgang das Nichtvorhandensein ihrer Person vorzuspiegeln.
    Sie stieg die gewundenen Steinstufen zum Obergeschoss empor, wo der Thron des Kaisers stand. Auch dieser war bewacht, damit niemand auf den Gedanken käme, sich darauf niederzulassen. Zu Kaiser Karls Zeiten waren dafür keine Wachen erforderlich gewesen.
    Ich trage den Schleier der Unsichtbarkeit, dachte Judith, niemand sieht mich. Sie hatte Glück. Als die Wachen einem untersetzten jungen Mann, der Judith unbekannt vorkam, mit einer tiefen Verbeugung den Durchgang öffneten, konnte sie unbemerkt hinter ihm hindurchhuschen. Auch die Posten auf der anderen Seite nahmen sie nicht wahr. Sie atmete auf, als sich hinter ihr das Portal schloss und sie sich in jenem Geschoss befand, wo damals der Kaiser und somit auch ihre Tante Gerswind gewohnt hatten. Der junge Mann vor ihr blieb plötzlich stehen und klopfte an eine Tür. Sie wurde von einem hochaufgeschossenen schlanken Gleichaltrigen geöffnet. Lothar, dachte Judith und sah ihre Vermutung bestätigt, als sie seine Stimme hörte: »Komm herein, Bernhard.«
    Der untersetzte junge Mann folgte der Aufforderung und zog die Tür hinter sich zu. Judith trat einen Schritt näher und lauschte. Doch durch das dicke Holz drang kein Laut. Es war überhaupt ungewöhnlich still auf diesem Flur, alles sehr unvertraut und ausgesprochen fremd. Erst da fiel ihr ein, dass sie sich auch in früheren Zeiten nur selten und dann immer recht kurz bei Gerswind im Obergeschoss aufgehalten hatte. Meistens war die Tante zu ihr nach unten gekommen. Judith eilte zum Ende des Flurs und stieg die Treppe hinunter.
    Mein altes Reich, dachte sie. Aber auch hier erinnerte sie nichts mehr an früher. Das mächtige Holzkreuz, das – wie auch eines im Obergeschoss – zwischen zwei Öllampen an der Wand hing, hatte es dort früher nicht gegeben, da war sie sich sicher. Damals hatten meistens alle Türen offen gestanden, und ständig waren Kinder durch den Flur gerannt, sich balgend, schreiend, singend oder Sachsen und Franken spielend. Mütter oder Ammen hatten sie lautstark zur Ordnung gerufen. Jetzt herrschte hier die gleiche Stille wie im Obergeschoss. Judith konnte sich noch gut daran erinnern, wie oft sie sich früher über gellendes Gelächter, Kindergekreische, dröhnende Streitgespräche zwischen den Erwachsenen und polternde Dienerschaft geärgert hatte. Der Lärm schien immer dann besonders unerträglich gewesen zu sein, wenn sie

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