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Die Welfenkaiserin

Titel: Die Welfenkaiserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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kreisrunde Insel vor. Auf dem Rand wird eine Ziege an einen Pflock gebunden. Wie lang muss der Strick sein, damit die Ziege genau die Hälfte der Insel abgrasen kann?«
    Begeistert stürzte sich Judith auf diese Aufgabe. Das Gedankenspiel erinnerte sie an die Spielabende im kaiserlichen Palatium, an die Fröhlichkeit der klugen Töchter, an die geistreichen Ratespiele, die, zumeist unter Einhards Leitung, so viel Freude verbreitet hatten. Judith hatte in Erfahrung gebracht, dass Einhard, der Leiter der Hofschule, mit seiner Frau Emma immer noch am Hof verweilte, und das machte ihr Hoffnung. Es würde sich nicht alles verändert haben, wie Gerswind prophezeit hatte. Geistesmacht, Gestaltungskraft und Erkenntnisfreude waren schließlich nicht so leicht einzudämmen, auch nicht von einem Kaiser, der Mädchenschulen schließen ließ.
    Außerdem lenkte die Ziege Judith von den Ziegen ab, wie sie jetzt insgeheim jene Mädchen nannte, die ihr offensichtlich feindlich gesinnt waren und über all die Missgeschicke lachten, die ihr widerfuhren. Missgeschicke, die sie selbst Judith bereiteten. Die hatte es hingenommen, dass ihr weißes Linnen in Flammen aufging und um neuen Stoff gebeten. Als der zerschnitten wurde, versuchte sie, den Schaden zu richten, und ersann einen neuen Schnitt, der die Äbtissin begeisterte. Sie fand eine Kröte in ihrer Wäsche und brachte sie ins Freie. Eines Tages spürte sie etwas Sonderbares, als sie sich hinsetzte. Da erst merkte sie, dass ihr jemand einen Schweineschwanz ans Kleid gesteckt hatte und sie wohl den halben Tag damit herumgelaufen war. Kommentarlos nahm sie ihn ab.
    »Der Schwanz eines räudigen Wolfs würde besser zu dir passen«, sagte eines der Mädchen in Anspielung auf Judiths Vatersnamen. »Man sagt, dass dich ein solcher gesäugt hat.«
    Judith lächelte ihre Gegnerin freundlich an. »Wie Romulus wäre ich dann vielleicht dazu ausersehen, ein Weltreich zu gründen«, meinte sie. Von da an mieden die Mädchen Wortgefechte mit der Welfin.
    Die wachte in der darauffolgenden Nacht durch einen Ruck auf, fand sich auf dem Fußboden wieder und sah, wie Irmingard ein anderes Mädchen verprügelte, das die beiden anscheinend aus dem Bett gekippt hatte.
    »Wehr dich auch!«, schnauzte Irmingard sie an, aber Judith zuckte mit den Schultern, entzündete ein Licht und setzte sich an den Tisch. Da sie ohnehin wach war, konnte sie sich wieder der Aufgabe mit der Ziege und der kreisrunden Insel widmen. Sie hatte bereits mit winziger Schrift ein Pergament vollgekritzelt. Und sie stellte fest, dass sie in der Nacht klarer zu denken vermochte. Der Morgen graute schon, als sie die Lösung gefunden zu haben glaubte. Da war es ihr fast gleichgültig, dass sie auf dem Weg ins Bett über einen Strick stürzte, den eines der Mädchen von ihr unbemerkt vom Tisch bis zu ihrem Bett gespannt hatte. Voller Euphorie, dass ihr das scheinbar Unmögliche geglückt war, legte sie das Pergament vorsichtig unter ihr Kopfkissen. Sie konnte es kaum erwarten, der Äbtissin später das Ergebnis zu überreichen.
    Als sie erwachte, schien sich etwas in ihrem Leben verändert zu haben. Zunächst schob sie das auf ihr Hochgefühl, eine Aufgabe gelöst zu haben, an der bedeutende Gelehrte seit Jahren arbeiteten. Sie fasste sich an den Kopf, der so gut zu rechnen verstand. Und erstarrte. Denn da, wo sich bis zum gestrigen Tag dichtes goldenes Haar befunden hatte, Haar, das ihr bis weit über die Hüften reichte, waren nur noch kurze Strähnen. Jemand hatte es in der Nacht bis zu den Ohren abgeschnitten. Ungläubig schüttelte Judith den Kopf und stellte die Beine auf den Boden. Als sie sich erhob, wäre sie fast auf dem dicken Teppich ihrer abgeschnittenen Haare ausgerutscht. Sie unterdrückte einen Aufschrei, hob mit zitternden Händen ihr Kopfkissen an und rang nach Luft.
    »Wo ist mein Pergament!«, brach es schließlich aus ihr heraus.
    Mehrere Mädchen kicherten, und eine Stimme gackerte übermütig: »Schau doch mal in der Asche nach!«
    Wutentbrannt stieß Judith die Flut ihres abgeschnittenen Goldhaars in die nächste Ecke und stürzte unter dem Gelächter der anderen zur Feuerstelle. Nur Irmingard lachte nicht. Judith griff zum Schürhaken und stocherte in der Glut herum, wider besseres Wissen hoffend, noch ein winziges Teil des Pergaments retten zu können. Tatsächlich fand sie ein angekohltes Eckchen, doch die Schrift darauf war unleserlich geworden. Sie spießte es mit dem Schürhaken auf, wandte sich um und

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