Die Welfenkaiserin
wieder.
»Notiert die Nonne Gerberga ihre Gedanken?«, fragte sie ihre Mitschwester.
»Das weiß ich nicht«, antwortete diese. »Sie schreibt viel, empfängt zahlreiche hochrangige Besucher und darf danach nicht gestört werden. Wenn man sie fragt, sagt sie, dass sie an einer Chronik arbeitet. Um in die Zukunft zu sehen, sagt sie, muss man die Vergangenheit kennen und die Gegenwart als einen Zeitraum begreifen, der von beidem so geprägt ist, dass er keine eigene Wirklichkeit zu besitzen scheint.« Sie wandte sich an Äbtissin Philomena. »Das hat mich grausam beunruhigt, weil wir doch nur heute handeln können. In der Unwirklichkeit? Darum bin ich hier im Kloster. Um das endlich zu verstehen.«
Die Äbtissin erhob sich.
»Schwester Gerberga«, sagte sie. »Du bist jetzt hier. Sei …«
Ihre Worte wurden von einem krachenden Donnerschlag verschluckt. Lautes Gehämmer an der Eingangstür übertönte das Nachgrollen. Der Regen prasselte noch heftiger herab. Genau so etwas habe ich doch schon einmal erlebt, dachte Judith verwirrt. Ein Raum voller Menschen beim Abendbrot, ein Unwetter, Pochen an der Tür, und dann geschieht etwas Entscheidendes. Sie schüttelte den Gedanken ab. In wenigen Tagen würde der Triumphzug in Poitiers ankommen und sie nach Hause bringen. Lautes Läuten erklang jetzt. Irgendjemand zog heftig an der Glocke am Eingang des Klosters.
»Die Männer!«, keuchte eine Nonne voller Entsetzen.
»Die würden sich nicht solchermaßen anmelden«, erklärte die Äbtissin, die wusste, dass noch viele Monde vergehen sollten, ehe ihre Nonnen sich von dem Schreck über das Eindringen der Fremdheit erholt haben würden. Graf Hugo hatte nicht nur ihren Verstand beleidigt, sondern dem Seelenfrieden ihrer Nonnen ernsten Schaden zugefügt. Sie schritt zum Eingangsportal und blickte durch das Guckloch.
Die Nonnen sprachen jetzt alle durcheinander, als würde sie der Ton der eigenen Stimme beruhigen: »Sie kann doch gar nichts sehen.« – »Wir sollten uns alle verstecken.« – »Gott steh uns bei.« – »Viel zu dunkel.« – »Ich habe Angst.« – »Das kann doch kein Christenmensch sein.«
»Ich kann in der Dunkelheit sehen, dass draußen ein Christenmensch steht, eine Schwester so wie wir«, erklärte Äbtissin Philomena in aller Gelassenheit und öffnete die Tür.
Eine Nonne mit einem Kind an der Hand trat ein.
Es dauerte ein paar Augenblicke, ehe Judith die beiden Besucher erkannte. Sie ließ vor freudigem Schreck ihren Becher fallen und sprang auf.
»Mutter! Gisela!«
Äbtissin Heilwig von Chelles schob ihre Enkelin vor. »Umarme deine Mutter!«, forderte sie Gisela auf.
Im Raum war es wieder so still geworden wie nach Schwester Gerbergas Geschichte vom Falterschmutz. Judith hatte sich nicht gerührt. In ihrem Kopf rumorte es. Nichts schien mehr an seinem Platz zu sein. Vergangenheit und Zukunft wirbelten durcheinander, die gewittrige Gegenwart mit ihrer Mutter und ihrer Tochter im Raum erschien ihr so unwirklich. Meine Tochter, Bernhards Tochter! Meine Mutter, abwesend, als Frau Stemma kam, mein Vater, froh, mich loszuwerden, erschlagen von einem Holzkreuz, Familie, Söhne, Schwestern, Hemma, die mich hasst; die Königin von Bayern, Lothar und Irmingard, bald auf das rechte Maß zurückgestutzt, neue Verhandlung in Aachen, mein Sohn Karl, sein verlorenes Erbe, das ich ihm zurückholen werde, Gewitter, Schicksal, Falterschmutz. Mit beiden Händen fasste sie sich an den Kopf, als wollte sie ihn stützen. Dann gab sie sich einen Ruck und trat auf die beiden Neuankömmlinge zu.
Gisela blickte ihre Großmutter unsicher an. Sie hatte nicht nur eine lange, beschwerliche Reise hinter sich, sondern sich auch unwillig auf diese begeben. Seit mehr als zwei Jahren lebte sie im Kloster Chelles und hatte bei Großmutter Heilwig jene Zuneigung gefunden, die sie sich früher von der Mutter gewünscht hatte, eine Zuneigung, die aber beharrlich ihrem Bruder vorbehalten blieb. Was sollte ihr eine Mutter bedeuten, die ständig zu vergessen schien, dass sie auch noch eine Tochter hatte? Eine Mutter, die ihr – wie alles Unvertraute einem Kind – fremd war, etwas unheimlich und überhaupt nicht nah.
Trotzig schmiegte sich die Achtjährige an Äbtissin Heilwig. Die strich dem Kind sanft über den Kopf und murmelte: »Die Geschichte wiederholt sich.« Lauter sagte sie, ohne jegliche Bitterkeit in der Stimme: »Genau wie dir mit deiner Tochter jetzt erging es einst mir mit dir, Judith, damals, als du an
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