Die Welfenkaiserin
sicherlich verdient. Aber was geschieht mit Lothars übrigen Ländern?«
»Sie werden auf die anderen Söhne verteilt«, antwortete Judith und dachte bei sich, dass Karl diesmal nicht nur mit ein paar Grafschaften abgespeist werden sollte.
»Ich kann dir jetzt nur einen Rat geben«, sagte Äbtissin Philomena, »denn im Grunde deines Herzens bist du ein bescheidener und demütiger Mensch. Das habe ich lange genug beobachten können. Aber gegen Versuchungen bist auch du nicht gefeit. Fordere das Schicksal nicht heraus, Judith, verlang nicht zu viel für deinen Sohn und lass dich vor allem von der Macht nicht berauschen. Das Erwachen könnte fürchterlich sein. Noch fürchterlicher für dich als ein Aufenthalt im Kloster.«
Ende November hatte das Warten ein Ende. An einem kalten, regnerischen Nachmittag traf ein Bote im Kloster ein und kündigte an, ein Triumphzug sei im Anmarsch, um die Kaiserin nach Aachen zurückzubringen.
»Wie kann ich diesen Mann für seine Botschaft belohnen?«, fragte Judith verzweifelt beim Abendbrot in der Eingangshalle der Abtei. »Ich habe hier doch nichts, was ich ihm schenken könnte!«
Die Äbtissin lachte. »Wie wäre es mit Gebeten?«, fragte sie zurück. »Kein Mensch erwartet Gold oder Güter von einer Nonne. Aber ich sehe schon, du bist bereit, wieder in jene Welt einzutauchen, in der man sich die Leute mit Geschenken gewogen macht!«
»Wir alle werden für dich und die Deinen beten«, meldete sich eine junge Nonne, die erst am Vortag nach ihrer zehnmonatigen Novizenzeit feierlich dem Heiland anvermählt worden war. Sie hatte sich den Namen Gerberga ausgewählt, nach einer Nonne, die sie in ihrem Heimatdorf nahe Chalon-sur-Saône kennengelernt hatte und die sie sehr bewunderte. Eine Frau, der sie nacheifern wollte, denn keine wisse besser zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Als sie von der göttlichen Gabe dieser Nonne sprach, die fähig sei, der Zukunft alle Geheimnisse abzuringen, begriff Judith, dass es sich um ebendie Nonne handeln musste, die Irmingard einst die Krone der Kaiserin prophezeit hatte. Um Bernhards Schwester. Ihr Herz schlug beim Gedanken an den einstigen Geliebten keinen Deut schneller, sie spürte eher etwas wie Ungeduld. Denn sie war sich im Klaren darüber, dass die schwerwiegenden Vorwürfe des Ehebruchs und der Zauberei nicht aus der Welt geschafft waren, wenn ihr Plan glückte und sie neben Ludwig wieder ihren alten Platz in Aachen einnahm. Sie war ja längst nicht mehr nur Opfer haltloser Gerüchte, sondern formell verurteilt worden. Der Kaiser hatte öffentlich zugegeben, durch ihre Zauberei verblendet worden zu sein. Selbst wenn er diese Worte zurücknahm, so hatte er sie doch in die Welt entlassen, wo sie ein Eigenleben führten und ihr, Judith, später wieder schaden könnten. Und Bernhards Flucht nach Barcelona glich einem Schuldbekenntnis. Die ganze scheußliche Sache würde noch einmal verhandelt werden müssen, damit sie nicht bei nächster Gelegenheit wieder gegen sie vorgebracht werden konnte. Natürlich würde Bernhard von Barcelona als Kämmerer nicht wieder an den Aachener Hof zurückkehren dürfen. Am liebsten wäre sie Bernhard überhaupt nicht mehr begegnet, aber sie wusste, dass auch er sich dem Vorwurf des Ehebruchs würde stellen müssen. Judith erwog, seine Schwester aufzusuchen und sich von ihr Rat für die Zukunft einzuholen. Sie wandte sich an die neue Schwester Gerberga, dankte ihr für ihre Gebete und erkundigte sich neugierig nach dem Wesen ihres Vorbilds.
»Dazu kann ich wenig sagen«, gestand die junge Nonne. »Die edle Gerberga steht so hoch über mir, dass ich es gar nicht wage, an sie als menschliches Wesen zu denken.«
»Sie ist eine Sünderin wie wir alle«, wies die Äbtissin sie zurecht.
»Das sagt sie auch«, fuhr die neue Schwester Gerberga fort, »sie sagt, dass jeder von uns so klein und unbedeutend ist wie ein Schmutzfleck auf dem Flügel eines Nachtfalters. Aber auch dieser Schmutzfleck hat ein Gewicht. Und wenn dieses Gewicht den Flug des Falters – für jeden Sehenden unmerklich – so verlangsamt, dass das Tier dem Mächtigsten der Welt für einen entscheidenden Augenblick die Sicht verdunkelt, entscheidet der Schmutzfleck das Schicksal der ganzen Welt.«
Die junge Nonne atmete tief aus. Das Prasseln des Novemberregens unterstrich die Stille im Raum, die ihren Worten gefolgt war. Ein plötzlicher Donnerschlag ließ alle aufschrecken. Ein paar Nonnen schrien auf.
Judith fasste sich als Erste
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