Die Welfenkaiserin
Kaiser Karls Hof weiltest, von meiner Schwester Gerswind betreut wurdest und lieber spielen wolltest, als mich zu sehen. Das hat mir das Herz zerrissen.«
Judith nickte. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie unangenehm ihr die Besuche der Mutter gewesen waren, wie groß die Befürchtung, diese würde sie von Gerswinds Seite reißen und ins fremde Altdorf bringen. Wie gehemmt sie sich in Heilwigs Gegenwart gefühlt und wie sehr sie gewünscht hatte, diese störende Frau würde aus ihrem Leben verschwinden. Irgendwann hatte ihre Mutter aufgegeben, sie zu besuchen, und das hatte sie sehr begrüßt. Sie war nie auf den Gedanken gekommen, dass dies ihre Mutter geschmerzt haben könnte.
Judith ging in die Knie, sodass sie ihrer Tochter auf gleicher Höhe in die Augen schauen konnte. Gisela gab sich keine Mühe, die Ablehnung in ihrem Blick zu verschleiern.
Mein Kind, dachte Judith voller Trauer, ich habe mein Kind verloren! Ein Kind, das mir nie wichtig gewesen war, weil es in meinem Leben nichts bewirken, kein bleibendes Werk stützen und kein Reich erhalten konnte. Weil es nur ein Mädchen war. Wie auch ich einst. Unwichtig. Nur gut für eine passende Heirat. So hat meine Mutter nicht gedacht. Es war ihr Vater gewesen, der sie immer hatte verheiraten wollen. Ihre Mutter war auf ihrer Seite gewesen, hatte sie vor den Zauberkünsten gewarnt und vor den Heiratsplänen des Vaters geschützt. Mit einer Klarheit, die sie unendlich bestürzte, begriff sie, dass sie ihrer Mutter Unrecht angetan hatte und ihr dieses durch die eigene Tochter vergolten wurde. Sie rührte das kleine Mädchen nicht an, richtete sich wieder auf, fasste ihre Mutter an beiden Händen und flüsterte: »Verzeih!«
Die Äbtissin von Chelles neigte leicht den Kopf und fragte ihre Tochter: »Würdest du von Gisela eine Bitte um Verzeihung erwarten?«
»Natürlich nicht!«, gab Judith erschrocken zurück. »Es ist nicht ihre Schuld, dass ich sie vernachlässigt habe.«
»Und es war auch nicht deine, dass ich kein Verständnis für dich aufbringen konnte. Das Schicksal hatte uns auseinandergerissen. Und das …«, Äbtissin Heilwig lächelte fein, »… war wiederum die Schuld meiner Mutter Geva. Den Frauen in unserer Familie gebricht es offenbar an Feingefühl ihren Töchtern gegenüber. Gisela hat da ein schweres Erbe angetreten. Aber wir sind nicht gekommen, um etwaige Schulden zu begleichen. Wir wollen dich nach Aachen zurückbegleiten. Da wirst du dann Gelegenheit finden, deine Tochter näher kennenzulernen.«
Sie zog ihren nassen Reisemantel aus, half Gisela aus ihrem und nahm dankend das Angebot von Äbtissin Philomena an, sich an der Abendtafel niederzulassen.
Ein jubelnder Schwarm von Menschen begleitete den Triumphzug, der von des Kaisers Halbbruder Bischof Drogo, von Ruadbern und dem jungen Karl angeführt wurde und jetzt vor dem Klosterhof Halt machte. Dort wartete Judith in ihrer Nonnentracht und verdrängte die Frage, ob diejenigen, die ihr jetzt mit süßen Worten huldigten, womöglich dieselben waren, die sie ein halbes Jahr zuvor mit wüsten Beschimpfungen überschüttet hatten. Sie wagte nicht, weltliche Kleidung anzulegen, da der Dispens des Papstes noch nicht eingetroffen war. Sie würde den Schleier erst abnehmen, wenn sie förmlich aus ihrem jetzigen Stand entlassen worden war.
Karl riss sich von Drogo und Ruadbern los und stürzte auf seine Mutter zu. Den meisten Umstehenden standen die Tränen in den Augen, als die Kaiserin aufschluchzend ihren Sohn in die Arme nahm. Giselas Augen blieben trocken. Trotz der vielen Stunden, die sie in den vergangenen beiden Tagen mit ihrer Mutter zugebracht hatte, blieb ihr Umgang miteinander unbeholfen. Das beiderseitige Gefühl der Fremdheit hatte nicht weichen wollen. Als ich hier ankam, hat sie nicht geweint und mich nicht umarmt, dachte Gisela, dabei hat sie mich zwei Jahre lang nicht gesehen. Karl war nur ein paar Monate weg, und schon hält sie ihn wieder so fest, als wollte sie ihn nie mehr loslassen. Alles ist wieder beim Alten.
Das dachte Judith auch, als jubelndes Volk den Reisezug gen Norden begleitete. Sie winkte den Menschen froh lachend zu, dankbar, dass der erste Teil des Plans so vorzüglich gelungen war. Anders als von Äbtissin Heilwig gewünscht, fand sie jedoch keine Zeit, sich mit ihrer Tochter zu beschäftigen. Die Verwaltung des Reichs musste neu geordnet werden, und darüber beriet sie sich ausführlich mit Drogo und Ruadbern. Es musste zum Beispiel ein neuer
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