Die Welle
Bewusstsein gesteigerter Energie, auf die Footballmannschaft übertragen konnte? Zur Mannschaft gehörten ein paar gute Sportler, und es ärgerte David, dass die Ergebnisse so miserabel waren: So schlecht waren die Spieler doch wirklich nicht. Sie waren nur unzureichend motiviert und zu unorganisiert. David wusste ganz sicher: Wenn er das Team nur halb so sehr zusammenfassen konnte, wie Mr Ross es heute in seinem Geschichtskurs getan hatte, dann könnten sie fast jede Mannschaft in der Umgebung einfach auseinander nehmen ...
Während David sich noch im Toilettenraum aufhielt, hörteer das zweite Läuten, das den Beginn der nächsten Schulstunde ankündigte. Er ging zum Waschbecken, als er plötzlich jemanden sah und stehen blieb. Vor den Spiegeln stand nur noch ein einziger Schüler: Robert. Er stopfte sein Hemd in den Gürtel und bemerkte nicht, dass er nicht allein war. Während David ihm zusah, strich der absolute Versager der Klasse sich das Haar glatt und betrachtete sein Spiegelbild. Dann stand er plötzlich ganz starr und steif aufgerichtet da. Nur seine Lippen bewegten sich wie zu einer Antwort.
David blieb wie gebannt stehen, während Robert die richtige Haltung bei der Beantwortung einer Lehrerfrage einübte.
Spät am Abend saß Christy Ross im Schlafzimmer auf dem Bettrand und kämmte ihr langes kastanienbraunes Haar. Ben nahm einen Schlafanzug aus der Kommode. »Weißt du«, sagte er, »ich war überzeugt, sie hätten etwas dagegen, sie würden sich nicht zwingen lassen, wie die Puppen zu sitzen, aufzuspringen und ihre Antworten herauszuschreien. Aber sie haben sich eher so benommen, als hätten sie ihr Leben lang auf so etwas gewartet.«
»Glaubst du nicht, dass es einfach ein Spiel für sie war, dass sie einen Schnelligkeitswettbewerb ausgetragen haben?« »Das hat sicher dazu beigetragen«, stimmte Ben zu. »Aber selbst ein Spiel wählt man aus, oder man lehnt es ab. Sie mussten dieses Spiel nicht spielen, sie wollten es. Und was ich am unheimlichsten fand: Sobald wir einmal angefangenhatten, spürte ich, dass sie mehr davon wollten. Sie wollten diszipliniert werden. Und jedes Mal, wenn sie eine neue Regel beherrschten, wollten sie eine neue. Als es am Ende der Stunde läutete, blieben sie auf ihren Plätzen sitzen. Ich bin ganz sicher, dass es für sie mehr als ein Spiel war.«
Christy hörte auf, ihr Haar zu kämmen. »Wie? Sie sind tatsächlich noch nach dem Läuten geblieben?«, fragte sie ungläubig.
Ben nickte. »Genau das meine ich.«
Seine Frau sah ihn skeptisch an, dann lächelte sie. »Ben, ich glaube, du hast ein Monster erschaffen.«
»Wohl kaum«, gab er lachend zurück.
Christy legte den Kamm aus der Hand und cremte ihr Gesicht ein. Ben zog die Pyjamajacke über. Christy wartete, dass ihr Mann sie wie üblich küsste, doch der Gutenachtkuss blieb heute aus. Ben war noch zu sehr in seine Gedanken versunken. » Ben ? «, sagte Christy. »Ja?«
»Meinst du, dass du diese Sache morgen fortsetzen solltest?«
»Ich glaube nicht«, antwortete ihr Mann. »Wir müssen allmählich zum japanischen Feldzug übergehen.«
Christy schloss die Cremedose und lehnte sich zurück. Ben hatte sich noch immer nicht gerührt. Er hatte seiner Frau erzählt, wie überraschend die Schüler auf seinen Versuch eingegangen waren, aber er hatte ihr nicht gesagt, dass auch er ganz davon eingefangen gewesen war. Es war fast peinlich zuzugeben, dass auch er sich von einem so simplen Spiel fesseln lassen konnte. Aber wenn er darüber nachdachte, war ihm klar, dass genau dies geschehen war. Derlebhafte Austausch von Fragen und Antworten, das Bemühen um Disziplin – das alles war ansteckend gewesen und gewissermaßen wie eine Hypnose. Die Leistung seiner Schüler hatte ihm gefallen. Wirklich interessant, dachte er, als er zu Bett ging.
Was am nächsten Tag geschah, empfand Ben als völlig ungewöhnlich. Diesmal kamen seine Schüler nicht nach dem Läuten allmählich in die Klasse geschlendert, sondern er selbst kam zu spät. Er hatte seine Notizen für den Unterricht und ein Buch über Japan im Wagen vergessen und musste vor Stundenbeginn noch einmal zum Parkplatz laufen. Als er dann in die Klasse stürzte, erwartete er, eine Art Irrenhaus vorzufinden, doch er erlebte eine Überraschung.
Im Klassenzimmer standen fünf säuberliche Tischreihen von je sieben Tischen, und an jedem Platz saß ein Schüler in der steifen Haltung, die Ben gestern »vorgeschrieben« hatte. Es herrschte Stille, und Ben ließ den
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