Die Welle
September 1939 ein?«
Die Balletttänzerin Andrea stand steif neben ihrem Stuhl. »Mister Ross, ich weiß es nicht.«
Mr Ross lächelte. »Trotzdem ist es eine gute Antwort, weil du die richtige Form gewählt hast. Amy, weißt du es?« Amy sprang auf. »Mister Ross, Polen!«
»Ausgezeichnet«, sagte Ben. »Brian, wie hieß Hitlers politische Partei?«
Brian stand schnell auf. »Mister Ross, die Nazis.«
Mister Ross nickte. »Das war gut, Brian. Sehr schnell. Weiß aber auch jemand den offiziellen Namen der Partei? Laurie?«
Laurie Saunders stellte sich neben ihren Stuhl. »Die Nationalsozialistische ...«
»Nein!«, unterbrach sie der Lehrer scharf und schlug mit einem Lineal auf sein Pult. »Noch einmal, aber korrekt, bitte ich mir aus!«
Laurie setzte sich, und ihr Gesicht verriet ihre Verwirrung. Was hatte sie denn falsch gemacht? David beugte sich zu ihr und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie stand wieder auf. »Mister Ross, die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei.«
»Richtig«, bestätigte Ben.
Er stellte noch viele Fragen, und immer sprangen seine Schüler auf und bewiesen, dass sie nicht nur die richtigen Antworten kannten, sondern auch die Form beherrschten, in der sie zu geben waren. Es herrschte eine völlig andere Atmosphäre als sonst in der Klasse, doch weder Ben noch seine Schüler dachten darüber nach. Sie waren viel zu sehr in dieses neue Spiel versunken. Geschwindigkeit und Genauigkeit der Fragen und Antworten wirkten irgendwie erheiternd.
Ben schwitzte schon bald, während er eine Frage der anderen nachjagte und die Schüler aufsprangen und wie aus der Pistole geschossen antworteten.
»Peter, von wem stammte der Vorschlag zum Leih-Pacht-System im Zweiten Weltkrieg?«
»Mister Ross, von Roosevelt.«
»Richtig. Eric, wer starb in den Todeslagern?«
»Mister Ross, die Juden!«
»Noch jemand, Brad?«
»Mister Ross, Zigeuner, Homosexuelle, Geisteskranke.« »Amy, warum wurden sie ermordet?«
»Mister Ross, weil sie nicht zur Herrenrasse gehörten.« »Richtig. David, wer befehligte die Todeslager?«
»Mister Ross, die SS!«
»Ausgezeichnet!«
Die Glocke läutete zum Ende der Stunde, doch in der Klasse verließ niemand seinen Platz. Noch ganz mitgerissen vom Fortschritt, den die Klasse heute erzielt hatte, erteilte Ben den letzten Befehl des Tages. »Heute Abend lest ihr dassiebte Kapitel zu Ende und beginnt das Kapitel acht. Das ist alles. Wegtreten!«
Es sah aus, als stünde die Klasse in einer einzigen gemeinsamen Bewegung auf; dann eilten die Schüler in bemerkenswerter Ordnung hinaus.
»Mann, das war toll!«, sagte Brian in einer für ihn ganz untypischen Begeisterung. Er stand mit einigen anderen Schülern aus dem Geschichtskurs auf dem Flur beisammen und spürte noch immer diese seltsame Energie, die er während des Unterrichts empfunden hatte.
»So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gefühlt«, sagte Eric.
»Jedenfalls ist es besser als immer nur das langweilige Mitschreiben«, meinte Amy. Brian und einige andere stimmten ihr zu.
»Es war wirklich anders als sonst«, sagte David. »Es war so, als hätten wir alle gemeinsam etwas getan. Wir waren nicht einfach eine Klasse; wir waren eine Einheit. Erinnert ihr euch, was Mister Ross über Macht gesagt hat? Ich glaube, er hat Recht. Habt ihr das nicht auch gefühlt?«
»Ach, du nimmst das viel zu ernst«, widersprach Brad hinter ihm.
»Meinst du?«, fragte David zurück. »Was hast du dann für eine Erklärung dafür?«
Brad zuckte die Achseln. »Was gibt es da zu erklären? Ross hat Fragen gestellt, wir haben geantwortet. Es war wieimmer im Unterricht, nur dass wir gerade gesessen sind und bei den Antworten neben unseren Stühlen gestanden haben. Ich glaube, ihr macht da viel Lärm um nichts.«
»Ich weiß nicht recht, Brad«, sagte David, während er sich abwandte und von der Gruppe fortging.
»Wohin gehst du?«, fragte Brian.
»Aufs Klo«, antwortete David. »Ich treffe euch nachher in der Cafeteria.«
»Okay!«
»Vergiss aber nicht, dass du gerade sitzen musst!«, mahnte Brad, und die anderen lachten.
David war nicht ganz sicher, ob Brad nun Recht hatte oder nicht. Vielleicht machte er aus einer Mücke einen Elefanten, aber andererseits hatte er wirklich dieses Gefühl von Gruppengeschlossenheit gehabt. Vielleicht bedeutete das innerhalb der Klasse keinen besonderen Unterschied. Schließlich beantwortete man nur Fragen, weiter nichts. Aber wenn man nun dieses Gruppengefühl, dieses
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