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Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer

Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer

Titel: Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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das Kommando der Carfax.
    Der Geisterhändler nickte langsam, seine Papageien ahmten die Bewegung nach. »Tun Sie, was Sie für richtig halten, Captain. Aber vergessen Sie nie, was auf dem Spiel steht.«
    Genau das ist die Frage, dachte Jolly. Was, zum Teufel, steht eigentlich auf dem Spiel?
    Griffin deutete auf ein schlankes Gefäß, das zwischen ledergebundenen Büchern auf einem Holzregal stand. »Was ist das?«, fragte er, obwohl er wissen musste, dass es sich um eine Urne handelte.
    »Meine Mutter«, sagte Walker. »Gott hab sie selig, das Teufelsweib.«
    Jolly hob eine Braue. Er bemerkte es und lächelte.
    »Die tapferste, verkommenste, gnadenloseste und blutrünstigste Piratin dies- und jenseits aller Breitengrade.«
    »War das hier ihr Schiff?«, fragte Jolly.
    »Darauf kannst du wetten. Sie hat es entworfen und bauen lassen. Sie war die erste Kapitänin der Karibik und die gottverflucht beste.«
    »Eine Piratenkapitänin?« Jolly blieb die Spucke weg. Sie hatte oft davon geträumt, selbst eine zu werden, aber nicht gewusst, dass es so etwas tatsächlich schon einmal gegeben hatte.
    »Eine Freibeuterin mit Leib und Seele«, bestätigte Walker voller Stolz und auch ein wenig wehmütig.
    »Für sie sind mehr Männer in den Tod gegangen, als ich zählen kann . und ich kann immerhin bis tausend zählen.« Er grinste breit. »An guten Tagen.«
    Eine Piratin. Kapitänin eines Schiffes. Mit dem Kommando über eine ganze Piratenmannschaft.
    Jolly dachte: Allein dafür lohnt es sich, diese Sache durchzustehen.
    Sie warf einen letzten Blick auf die Urne, und ihr war, als spräche eine Stimme zu ihr: Du kannst sein wie ich, Jolly, sagte die tote Piratin in ihrem Kopf. Du kannst wie ich sein, wenn du nur willst.
    Und endlich wurde ihr bewusst, was der Geisterhändler meinte, wenn er sagte, dass es die Zukunft war, die auf dem Spiel stand. Keine leere Floskel mehr, kein vages, unbestimmtes Ziel ohne Wert und Gestalt.
    Die Zukunft, hallte es in ihr nach.
    Vielleicht lohnte es sich tatsächlich, dafür zu kämpfen.
    Munk saß im Schneidersitz am Bug der Carfax, als sich Stunden später die ersten Felszacken am Horizont zeigten. Seine Muscheln hatte er vor sich auf den Planken ausgebreitet. Wieder und wieder legte er sie zu neuen Mustern aus, warf sie ungeduldig durcheinander, sortierte sie neu, tauschte einzelne aus oder starrte brütend auf sie hinab und massierte sich die Schläfen.
    Nach dem Hoch in Walkers Kajüte wurde Jolly nun von einem anderen, ganz und gar gegensätzlichen Gefühl eingeholt, das sie viel zu lange unterdrückt hatte. Dumpfe, beißende Verzweiflung bemächtigte sich ihrer.
    Sie hielt die Untätigkeit und brütende Stimmung an Bord nicht länger aus. Es war nicht nur der Verlust Bannons, der sich in ihr Gemüt fraß, nicht nur die Trauer um ihn und ihre Freunde von der Mageren Maddy. Es war der Verlust ihres früheren Lebens, des spielerischen, vogelfreien Daseins unter den Piraten, der ihr zu schaffen machte. In diesem Augenblick wollte sie nur irgendwo anders sein, nicht hier, nicht unter den wachsamen Augen des Geisterhändlers; sogar sein Schweigen beschwor unheilvolle Vorahnungen und Befürchtungen herauf.
    In ihrem früheren Leben an Bord der Maddy war sie oft hinauf in den Ausguck geklettert, hatte sogar außerhalb der Reihe Wache geschoben, um allein zu sein, nachzudenken und sich für eine Weile von allem zu lösen: dem Deck, der Mannschaft, sogar vom Meer. Daran erinnerte sie sich jetzt wieder, als ihr die Enge an Bord der Carfax so unangenehm wurde, dass sie glaubte, keine Luft mehr zu bekommen.
    Sie schwang sich in die Wanten und kletterte an dem Gitter aus Tauen zur Spitze des Besanmastes empor, des hinteren der drei Masten der Carfax. Unter ihrem Fliegengewicht bogen sich die straffen Seile kaum durch. Der Hanf schnitt in ihre Handflächen, aber sie genoss das Zwicken und Kratzen, weil es sie an früher erinnerte. Wenn sie jetzt die Augen schloss, auf halber Höhe über dem Deck, konnte sie sich vorstellen, alles sei wieder wie damals, mit Bannon und den anderen; für einen Augenblick fühlte sie sich leicht und unbeschwert, der Wind wehte ihr um die Nase und war fast wie eine Medizin, die sie auf die Beine und zu sich selbst brachte.
    Der Besanmast hatte keine Ausguckplattform, aber das machte ihr nichts aus. Sie setzte sich auf eine der beiden höchsten Rahen, hielt sich mit einer Hand fest und ließ die Beine baumeln.
    Viele Mannslängen unter ihr lag das Deck der Carfax und erschien

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