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Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier

Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier

Titel: Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Tiere wichen dem Koloss aus, der da von oben in ihr Reich eindrang. Später, wenn die Carfax am Meeresboden lag, würden sie sich neugierig heranwagen, die Trümmer erforschen und sie nach und nach ihrer Welt einverleiben. Muränen würden sich in dem gesplitterten Rumpf einnisten, Algen die Planken bedecken und Krebse in Ritzen und Spalten auf Beutefang gehen. Irgendwann würde sich der unförmige Berg nicht mehr von seiner Umgebung unterscheiden, eingesponnen von Pflanzen, halb begraben unter Sand und Schlick.
    Diese Bilder jagten Jolly in Sekundenschnelle durch den Kopf, blitzten auf und erloschen wieder. Sie hatte das Gefühl, dass der Sog jetzt ein wenig nachließ. Der Strom der Luftblasen versiegte, und nun konnte sie das zerstörte Schiff wieder unter sich sehen, eingesponnen in wogende Taue und aufgeblähte Segelplanen.
    Und sie konnte hören! Ihre Ohren gewöhnten sich immer rascher an die neue Umgebung. Als sie mit Munk durch Aeleniums Unterstadt getaucht war, hatten sie sich unterhalten können. Aber sie war zu aufgeregt gewesen, um die eigenen Geräusche der Unterwasserwelt wahrzunehmen.
    Stumm wie ein Fisch, behauptet das Sprichwort. Von wegen! Jolly hörte in der Ferne ein Durcheinander aus Pfeifen und Piepsen und Röhren, ausgestoßen im chaotischen Rhythmus von Vogelgezwitscher, nur dass es kein Zwitschern war, sondern die Stimmen der Fische, die sich irgendwo jenseits ihres Sichtfeldes befinden mussten.
    Auch der Lärm des berstenden Wracks drang zu ihr herauf. Der Druck zerquetschte die hölzernen Innenräume. Längst musste er die Kajüte mit Walkers Erinnerungen an seine Mutter zermalmt haben. Abermals spürte Jolly einen so heftigen Stich in der Brust, dass sie für einen Augenblick glaubte, ein Trümmerstück hätte sich in ihren Leib gebohrt. Doch es war nur ihr schlechtes Gewissen, das sie schmerzte. Die Gewissheit, eine furchtbare Schuld auf sich geladen zu haben.
    Und immer noch stürzte sie.
    Nun weinte sie - es gab niemanden mehr, vor dem sie sich verstellen musste. Und ihre Tränen wurden ohnehin eins mit dem Wasser, sobald sie ihr in die Augen traten. Sie brauchte sie nicht einmal fortzuwischen, sogar beim Weinen sah sie so klar und scharf, als befände sie sich an der Oberfläche.
    Jeden Moment erwartete sie den Aufprall, der ihr durch die Geschwindigkeit des Sogs wahrscheinlich alle Knochen brechen würde. Sie würde nicht ertrinken, nicht vom Druck zermalmt werden - sie würde schlicht und einfach dort unten liegen bleiben, unfähig, sich zu rühren. Gott, sie würde der erste Mensch sein, der am Meeresgrund verdurstete.
    Plötzlich packte sie ein zweiter Sog. Er riss sie aus dem Bann des ersten und zerrte sie zur Seite, viel schneller als zuvor, als glitte sie durch einen engen Tunnel. Vielleicht verlor sie für einen Moment das Bewusstsein, vielleicht gar für Stunden. Oder blinzelte sie nur mit den Augen?
    Als sie die Lider wieder hob, war sie an einem anderen Ort.
    Gerade hatte sie noch die Carfax unter sich gesehen, ein Knäuel aus Holz und Tau und verbogenem Eisen. Im nächsten aber war das Schiff fort, als hätte es sich von einem Herzschlag zum anderen in nichts aufgelöst.
    Auch der Trümmerstrom war versiegt.
    Unter sich sah Jolly jetzt den Meeresboden, eine graue Ödnis, die sie an die Beschreibungen des Schorfenschrunds erinnerte. Aber dies konnte nicht der Schrund sein, nicht einmal ein Ort in seiner Nähe. Sie war tausende von Seemeilen von ihm entfernt, ganz abgesehen davon, dass nirgends eine Spur des Mahlstroms auszumachen war.
    Träumte sie? War das hier schon der erste Schritt ins Jenseits? Starb sie vielleicht schneller, als sie befürchtet hatte?
    Der Sog ebbte ab. In einer Höhe von etwa fünfzig Fuß über dem Meeresgrund bekam sie ihren Sturz unter Kontrolle, hielt sich in der Schwebe und blickte nach unten.
    Dort war etwas, das sie verwirrte.
    Auf den ersten Blick sah es aus wie drei dunkle Punkte, die im grauen Sand in Form eines gleichschenkeligen Dreiecks angeordnet waren. Erst als sie sich langsam tiefer sinken ließ, erkannte sie drei Gestalten. Drei alte Frauen saßen da, die Gesichter nach außen gewandt, mit langem weißem Haar, das sich an ihren Hinterköpfen zu je zwei Strängen teilte. Durch diese Haarstränge waren sie miteinander verbunden; sie spannten sich straff zwischen ihren Köpfen und gingen ineinander über, sodass nicht auszumachen war, wo das Haar der einen endete und das der anderen begann.
    Die drei Frauen hockten auf niedrigen

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