Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier

Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier

Titel: Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
auf einem schwenkbaren Gelenk montiert und glitt knirschend herum. Jolly entriss dem Geist die Fackel und hielt sie an die Pulveröffnung.
    Auf der Brücke der Quadriga schrien mehrere Männer gleichzeitig auf. Alle stürmten auseinander, auch Tyrone wich überrascht zurück. Er mochte mit vielem gerechnet haben, aber nicht damit, dass Jolly - das Kind, wie er sie genannt hatte - zum Angriff überging.
    »Zeig’s ihnen!«, brüllte Buenaventure grimmig und riss das Steuer herum.
    Die Erschütterung des Kanonenschusses sprengte Jolly fast den rechten Arm aus der Schulter. Sie wurde zurückgeworfen, und eine Druckwelle schlug ihr wie eine Ohrfeige ins Gesicht. Einen Moment lang verschleierte Rauch ihre Sicht, sodass ihr nun doch noch Tränen über die Wangen rannen, ob sie wollte oder nicht.
    Gellende Schreie schallten vom gegnerischen Deck herüber. Aber es ließ sich in all dem Rauch nicht erkennen, ob sie den Kannibalenkönig getroffen hatte.
    Sie wartete nicht ab, sondern brüllte den Geistern Befehle zu, wie sie es einst von Bannon gelernt hatte. In Windeseile nahm die Carfax wieder Fahrt auf.
    »Sie werden uns in Stücke schießen«, rief Buenaventure verbissen. »Aber sie werden sich gewiss noch lange an diesen Tag erinnern.«
    Im ersten Augenblick wusste sie nicht, was er meinte. Doch als sie zurück zur Quadriga blickte, wurde es ihr schlagartig klar. Die Brückenreling war an Steuerbord nahezu verschwunden. Ihr Treffer hatte eine weite Bresche in die Planken geschlagen und die darunter liegende Kajüte aufgerissen. Männer waren in das Loch gestürzt und fanden sich jetzt ein Deck tiefer wieder. Sie erkannte Bannon, der ihr mit grimmiger Miene hinterherstarrte, vielleicht aus Wut, vielleicht aber auch, weil er wusste, dass sie mit dem Angriff ihr Todesurteil unterschrieben hatte.
    Wo steckte Tyrone?
    Sie entdeckte ihn ein paar Sekunden später zwischen den gestürzten Männern in der offenen Kajüte. Er rappelte sich inmitten der Trümmer auf und rieb sich mit dem Unterarm Blut aus dem Gesicht; offenbar nicht sein eigenes, denn bald stand er breitbeinig da, stieß grob die umherstolpernden Verletzten zur Seite und trat in die Bresche, die Jollys Treffer in seinen Brückenaufbau gesprengt hatte.
    Er rief ihr etwas hinterher, das sie nicht verstand.
    Bannon stand weiter oben am Rand des Lochs, stützte sich auf einen gesplitterten Holzpfosten und schüttelte den Kopf. Er wusste, was jetzt geschehen würde, aber ehe Jolly erkennen konnte, ob sich Trauer oder wenigstens Mitgefühl auf seinen Zügen abzeichnete, trieb eine Rauchwolke zwischen die Schiffe und verdeckte ihre Sicht.
    Ihr blieb keine Zeit, auf die Reaktionen ihrer früheren Freunde zu achten, all jener Männer, die sie großgezogen hatten, als wäre sie ihre Tochter. Stattdessen wischte sie sich die Tränen von den Wangen, schluckte ihren Schmerz herunter und drehte sich zu Buenaventure um.
    »Sie werden uns versenken«, sagte sie sachlich.
    »Ja«, entgegnete er, ebenfalls äußerlich reglos. »Aber das war es wert. Fast.«
    Jetzt erst verzogen sich seine Lefzen zu einem traurigen Lächeln. Er mochte das Gesicht eines Hundes haben, aber sein Lachen war menschlicher als das des Kannibalenkönigs.
    Blitzartig fiel ihr Walker ein. Die Carfax war das Schiff seiner Mutter gewesen, der ersten Seeräuberin der Karibik. Diese Schaluppe war ihr Andenken, ihr Vermächtnis. In der Kapitänskajüte stand sogar die Urne mit ihrer Asche.
    All das hatte sie aufs Spiel gesetzt. Und verloren.
    »Es tut mir -«, begann sie, aber dann übertönte Kanonendonner ihre Worte. Die Carfax erbebte, und Jolly wurde von den Füßen gerissen. Kugeln zerfetzten die Segel, und keinen Herzschlag später war die Luft voller Eisen. Zerfetzte Taue peitschten umher wie Schlangenleiber. Holzsplitter regneten auf die Brücke und das Deck herab. Der Fockmast stürzte wie ein gefällter Baum, und die Geister vermengten sich zu einem nebulösen Wirbel, der überall gleichzeitig zu sein schien und doch den Untergang der Schaluppe nicht mehr aufhalten konnte.
    »Jolly!«, schrie Buenaventure, der immer noch das Steuer hielt. »Über Bord! Schnell!«
    »Nicht ohne dich.«
    »Hör auf zu disku…« Rauchschwaden wehten zur Brücke herauf und trennten sie. Irgendwo war Feuer ausgebrochen, an den Geschützen, vermutlich. Abermals ertönten die Kanonen, augenblicklich gefolgt von weiteren Einschlägen.
    Die Carfax sank.
    Das Schiff schrie und ächzte und stöhnte wie ein sterbendes Tier, als sich

Weitere Kostenlose Bücher