Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier
übrig geblieben.«
»Urvater?«, fragte Jolly stockend.
»Der Älteste von allen. Der Schöpfer.«
Jolly hob abwehrend die Hände, als könnte sie so die Dinge, die die Weberinnen sagten, von sich weisen. »Aber Urvater ist nur ein alter Mann mit vielen Büchern!«
»Das ist er heute.« »Aber das war er nicht immer.«
»Er hatte einen Namen, damals.«
»Viele Namen.«
»Aber er war immer derselbe. Der Schöpfer. Der Erste, der aus dem Meer der Meere herüberkam und ein Licht in der Dunkelheit entzündete.«
Jolly spürte auf einmal das Gewicht des Meeres über sich, eine Säule aus Wasser, so breit wie ihre Schultern und viele tausend Fuß hoch. Kraftlos sank sie in die Knie, ließ sich zurückfallen und zog die Beine zum Schneidersitz an.
»Urvater ist Gott?«, fragte sie.
»Nicht der Gott. Nur ein Gott.«
»Der älteste.«
»Was ist mit den anderen?«, fragte Jolly. »Graf Aristoteles und d’Artois und .«
»Sie sind Menschen. Eifrige Hände mit einem Funken Verstand.«
». und der Geisterhändler?«
»Der Einäugige.«
»Der Rabengott.«
»Früher trugen seine Vögel andere Namen. Hugin, der eine. Munin, der andere. Sie waren Raben, damals.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen, so als würde den drei Weberinnen bewusst, dass auch sie bereits Dinge vergaßen. Dass auch ihre Kräfte schwanden, genau wie die der Götter.
»Egal«, sagte eine von ihnen schließlich.
»Egal, egal«, pflichteten die beiden anderen ihr bei.
»Aber die Meister des Mare Tenebrosum«, sagte Jolly und versuchte immer noch, all dem einen Sinn abzuringen, etwas, das sie fassen und begreifen konnte. »Die Meister sind… böse!«
»Was ist das?«
»Wer sagt das?«
»Vor allem sind sie jung. Und mächtig. So, wie es auch die Götter dieser Welt einst waren, vor unendlich langer Zeit.«
»Sie sind neugierig.«
»Begierig, vielleicht.«
»Oder neidisch.«
»Aber böse? Was ist böse, Jolly?«
Ihr entging nicht, dass die Frauen sie zum ersten Mal beim Namen nannten. Und sie wusste, was das bedeutete. Die Weberinnen erwarteten eine Antwort von ihr. Nichts Nachgeplappertes, nichts auswendig Gelerntes, sondern ihre Antwort.
Was ist das - böse?
Der Acherus hatte Munks Eltern ermordet. Das war böse. Oder nicht? War es böse, wenn Spanier Engländer erschlugen?
Alles eine Frage des Blickwinkels, dachte Jolly und fühlte sich schlecht und schuldig dabei. Aber es änderte nichts an der Antwort. Alles eine Frage des Blickwinkels.
Nein!, durchfuhr es sie. Töten ist böse, ganz gleich aus welchem Grund. Vielleicht war das die Lösung. Aber wie konnte sie sich anmaßen, die Meister des Mare zu verurteilen, obwohl sie selbst an zahllosen Beutezügen und Kaperfahrten teilgenommen hatte? Gewiss gab es Menschen, die sie - Jolly - deshalb als böse bezeichnet hätten. So einfach also konnte es nicht sein.
»Wenn die Meister des Mare Tenebrosum nicht böse sind«, sagte sie nachdenklich, »warum kämpfen wir dann gegen sie?«
Darauf erntete sie nichts als Schweigen.
»Warum?«, fragte sie noch einmal und sprang auf. Sie war drauf und dran, eine der Frauen an den Schultern zu packen und zu schütteln.
»Dies sind die Tatsachen«, sagte eine Weberin. »Bilde dir selbst eine Meinung.«
Mühsam versuchte Jolly, alles, was sie erfahren hatte, in eine vernünftige Reihenfolge zu bringen. Urvater war aus dem Wasser des Mare Tenebrosum geboren worden. Er hatte das Licht entzündet, wie die Weberinnen es genannt hatten, und diese Welt erschaffen. Jollys Welt. Aus den neuen Ozeanen war wiederum Leben entstanden, andere Götter, dann Tiere, dann Menschen. Und als die Götter schließlich ihre Kraft aufgebraucht hatten und schwächer wurden, zogen sie sich nach Aelenium zurück, mit dem sie das Tor zum Mare Tenebrosum versiegelten. Sie waren nicht mehr stark genug, die Früchte ihrer Schöpfung auszukosten, aber sie gönnten sie auch keinem anderen. Sie waren nicht bereit, mit den Mächten des Mare Tenebrosum zu teilen, nicht einmal Urvater, der einst selbst von dort herübergekommen war. Eifersüchtig hüteten sie, was ihres war, aber sie schützten nicht die Menschheit, sondern verteidigten ihren Besitz. Wie ein Kind, das anderen ein Spielzeug vorenthält, auch wenn es selbst gar nicht mehr damit spielen mag.
Das also war das Geheimnis von Aelenium. Eine Stadt von Göttern, die längst keine mehr waren. Manche fort und vergessen, andere noch am Leben, aber schon an der Schwelle zur Vergessenheit.
Was bedeutete das für Jolly?
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