Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
ein vollständiges neues System aufstellte, an welches seine Anhänger nur irgend einen Zeitraum hindurch sich hätten halten können, Alle zwar merkten, es sei etwas sehr Großes geschehn, aber doch keiner recht wußte was. Sie sahen wohl ein, daß die ganze bisherige Philosophie ein fruchtloses Träumen gewesen, aus dem jetzt die neue Zeit erwachte; aber woran sie sich nun halten sollten, wußten sie nicht. Eine große Leere, ein großes Bedürfniß war eingetreten: die allgemeine Aufmerksamkeit, selbst des großem Publikums, war erregt. Hiedurch veranlaßt, nicht aber vom Innern Triebe und Gefühl der Kraft (die sich auch im ungünstigsten Zeitpunkt äußern, wie bei Spinoza) gedrungen, machten Männer ohne alle auszeichnende Talente mannigfaltige, schwache, ungereimte, ja mitunter tolle Versuche, denen das nun ein Mal aufgeregte Publikum doch seine Aufmerksamkeit schenkte und mit großer Geduld, wie sie nur in Deutschland zu finden, lange sein Ohr lieh.
Wie hier, muß es einst in der Natur hergegangen seyn, als eine große Revolution die ganze Oberfläche der Erde geändert, Meer und Land ihre Stellen gewechselt hatten und der Plan zu einer neuen Schöpfung geebnet war. Da währte es lange, ehe die Natur eine neue Reihe dauernder, jede mit sich und mit den übrigen harmonirender Formen herausbringen konnte: seltsame monströse Organisationen traten hervor, die mit sich selbst und unter einander disharmonirend, nicht lange bestehn konnten, aber deren noch jetzt vorhandene Reste es eben sind, die das Andenken jenes Schwankens und Versuchens der sich neu gestaltenden Natur auf uns gebracht haben. – Daß nun in der Philosophie eine jener ganz ähnliche Krisis und ein Zeitalter der ungeheuren Ausgeburten durch Kant herbeigeführt wurde, wie wir Alle wissen, läßt schon schließen, daß sein Verdienst nicht vollkommen, sondern mit großen Mängeln behaftet, negativ und einseitig gewesen seyn müsse. Diesen Mängeln wollen wir jetzt nachspüren.
Zuvörderst wollen wir den Grundgedanken, in welchem die Absicht der ganzen Kritik der reinen Vernunft liegt, uns deutlich machen und ihn prüfen. – Kant stellte sich auf den Standpunkt seiner Vorgänger, der dogmatischen Philosophen, und gieng demgemäß mit ihnen von folgenden Voraussetzungen aus. 1) Metaphysik ist Wissenschaft von Demjenigen, was jenseit der Möglichkeit aller Erfahrung liegt. – 2) Ein solches kann nimmermehr gefunden werden nach Grundsätzen, die selbst erst aus der Erfahrung geschöpft sind (Prolegomena, § 1); sondern nur Das, was wir vor , also unabhängig von aller Erfahrung wissen, kann weiter reichen, als mögliche Erfahrung. – 3) In unserer Vernunft sind wirklich einige Grundsätze der Art anzutreffen: man begreift sie unter dem Namen Erkenntnisse aus reiner Vernunft. – Soweit geht Kant mit seinen Vorgängern zusammen; hier aber trennt er sich von ihnen. Sie sagen: »Diese Grundsätze, oder Erkenntnisse aus reiner Vernunft, sind Ausdrücke der absoluten Möglichkeit der Dinge, aeternae veritates , Quellen der Ontologie: sie stehn über der Weltordnung, wie das Fatum über den Göttern der Alten stand.« Kant sagt: es sind bloße Formen unsers Intellekts, Gesetze, nicht des Daseyns der Dinge, sondern unserer Vorstellungen von ihnen, gelten daher bloß für unsere Auffassung der Dinge, und können demnach nicht über die Möglichkeit der Erfahrung, worauf es, laut Art. 1, abgesehn war, hinausreichen. Denn gerade die Apriorität dieser Erkenntnißformen, da sie nur auf dem subjektiven Ursprung derselben beruhen kann, schneidet uns die Erkenntniß des Wesens an sich der Dinge auf immer ab und beschränkt uns auf eine Welt von bloßen Erscheinungen, so daß wir nicht ein Mal a posteriori , geschweige a priori , die Dinge erkennen können, wie sie an sich selbst seyn mögen. Demnach ist Metaphysik unmöglich, und an ihre Stelle tritt Kritik der reinen Vernunft. Dem alten Dogmatismus gegenüber ist hier Kant völlig siegreich; daher haben alle seitdem aufgetretenen dogmatischen Versuche ganz andere Wege einschlagen müssen, als die früheren: auf die Berechtigung des meinigen werde ich, der ausgesprochenen Absicht gegenwärtiger Kritik gemäß, jetzt hinleiten. Nämlich bei genauerer Prüfung obiger Argumentation wird man eingestehn müssen, daß die allererste Grundannahme derselben eine petitio principii ist; sie liegt in dem (besonders Prolegomena, § 1, deutlich aufgestellten) Satz: »Die Quelle der Metaphysik darf durchaus nicht empirisch
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